
Berliner Krimi: Bewusstlos im Tiergarten
Die Krimi-Autorin Pieke Biermann erzählt wahre Geschichten von Berliner Verbrechen. Diesmal: ein Überfall im Tiergarten - und wie sich die Polizei bei der Aufklärung von Angriffen auf Schwule zuweilen schwer tut.
Sammy Meyer hat in seinem 48-jährigen Leben schon einiges eingebüßt. Gleich bei der Geburt sein eigenes Blut: Es musste ausgetauscht werden. Später seinen Beruf, Matrose der Binnenschifffahrt – „die Elbe rauf und runter, die Oder bis Stralsund, nur der Westen war tabu“: Mit drei Dialysen pro Woche geht das nicht. 1996 büßt er seine kranke Niere ein, aber das ist mal Glück: Er bekommt eine neue transplantiert. Seine Mutter stirbt an dem Nierenleiden, das sie ihm vererbt hat. Sein Vater setzt sich im heimatlichen Nordbrandenburg mitsamt der Scheune in Brand und hinterlässt nur eine Jacke. Im Frühjahr 2008 stirbt sein Bruder, und ein lieber Freund hängt sich auf.
In der Nacht zum 11. August 2008 erleidet Sammy Meyer Verluste, von denen er sich bis heute nicht erholt hat und vielleicht nie erholen wird. Seitdem fehlen ihm Monate – im Gedächtnis. Und bis heute weiß niemand genau, wie das kam. Klar ist: Es geschah im Tiergarten.
Hier wird Sammy Meyer kurz nach Mitternacht gefunden. Die Polizeipressemeldung Nr. 2408 vom 11.8. verzeichnet drei Gewalttaten an diesem Ort – „Gegen 23 Uhr 45 griffen drei Unbekannte einen Obdachlosen (...) an. Der 50-Jährige hatte sich dort mit seinem Hab und Gut zur Ruhe gelegt, als ihn zwei der drei Täter ohne jede Vorwarnung schlugen und traten. (...) Kurz nach Mitternacht überfielen erneut drei Unbekannte einen 46-Jährigen (...). Durch Schläge und Tritte ging er zu Boden. Die beiden Komplizen des Angreifers nahmen Bargeld aus den Hosentaschen des Geschädigten. Anschließend flüchteten die Täter in unbekannte Richtung. Alarmierte Polizeibeamte fanden im Rahmen ihrer Ermittlungen wenig später einen am Boden liegenden Mann mit einer Kopfverletzung. Der 48-Jährige lag in einem Gebüsch und war nicht ansprechbar. Die Feuerwehr brachte ihn in ein Krankenhaus. Die genauen Tatumstände sind ungeklärt. In allen drei Fällen könnte es sich um dieselbe Tätergruppe handeln.“
Die Ermittlungen übernimmt die Kripo der örtlichen Direktion 3: VB III 1, ein Raubkommissariat. Noch in der Nacht erfährt „Maneo“ von den Vorfällen durch einen anonymen Anrufer. Bastian Finke, der Leiter der schwulen Opferhilfe, nimmt Kontakt zur Kripo auf und bekommt für zwei der Täter detaillierte Beschreibungen. Maneo setzt nachmittags die erste Pressemeldung ab. „Weil wir natürlich im höchsten Maße daran interessiert sind, weitere Zeugen zu finden“, sagt Finke. Und weil andere Cruiser gewarnt werden müssen, denn für Maneo ist klar: „Den Opfern wurde nachts gezielt aufgelauert an einem Ort, der zu der Zeit bekannt dafür ist, von Schwulen als Cruising-Gebiet genutzt zu werden. Die Annahme, die Täter seien rein zufällig in dieses abgelegene Areal des Parks gekommen, ist höchst unwahrscheinlich. Die Täter drangen gezielt ins Cruising-Gebiet ein, um Schwule anzugreifen. Ein solcher Angriff ist als homophob zu bewerten.“
In der Polizeimeldung weist nichts darauf hin. Obwohl die Berliner Polizei seit 1990 einen „Ansprechpartner für gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ hat, heute Teil der Zentralstelle für Prävention des Landeskriminalamts (LKA Präv). Obwohl seit 2001 Delikte der Vorurteils- oder Hasskriminalität, die homophobe Angriffe explizit einbezieht, als „politisch motivierte Taten“ bundesweit dem Staatsschutz gemeldet werden sollen.
„Erstens schwules Opfer, zweitens Schwulentreff und drittens Raubüberfall, also homophobe Gewalt – so einfach ist das nicht, sondern die Frage muss unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles geprüft werden“, gibt der Berliner Polizeipräsident zu bedenken. Genau die scheinen aber für einen homophoben Hintergrund zu sprechen, zumal Sammy nicht beraubt wurde. Dieter Glietsch weist aber auch auf die notwendige besondere Sensibilität im Umgang mit bestimmten Opfern hin: „Das gilt gerade für Gewalt gegen Angehörige von Gruppen, die sich besonders verfolgt fühlen mussten in der Vergangenheit, bei denen wir wissen müssen, dass ein Misstrauen gegenüber der Polizei auch Ursachen hat, die die Polizei in früheren Jahrzehnten selbst gesetzt hat und die noch nicht beseitigt sind.“ Nämlich schwule Männer und die Nachbeben des §175. Effektive Polizeiarbeit ist das beste Gegengift gegen solches Misstrauen. „In jedem Fall haben wir allen Grund, innerhalb der Behörde dafür zu sorgen, dass keine Fehler gemacht werden und homophobe Gewalt als solche erkannt und bearbeitet wird“, sagt Dieter Glietsch, „denn das, was dadurch an Vertrauen im Einzelfall verloren geht, hat Rückwirkungen auf die gesamte Szene.“
Sammy Meyer verliert irgendwann im Oktober 2008 noch etwas – eben jenes Vertrauen in die Arbeit der Polizei. Das liegt an zwei Fragen: Warum ist er bis heute nicht von der Polizei befragt worden? Und warum hat die Polizei sein Auto erst gefunden, nachdem es zweimal umgesetzt worden war? Die erste Frage stellt er Maneo-Mitarbeiter Bastian Finke, als der ihn am 30. Oktober besucht, um die ersten Schritte für die Opferentschädigung mit ihm zu besprechen. Maneo bietet ähnliche Betreuung wie die Opferhilfeorganisation „Weißer Ring“, speziell für Schwule.
Sammy war nach über zwei Monaten im Virchow-Klinikum zwischen Koma, Operationen, wachen Phasen mit ersten Gehversuchen und einem künstlichem Koma, aus dem er Anfang Oktober erwachte, Mitte Oktober in eine Reha-Klinik nach Wandlitz verlegt worden. Er hatte ein Schädelhirntrauma mit Jochbein- und Augenhöhlenbruch erlitten, danach einen Herzinfarkt, er war reanimiert worden, konnte lange nur unverständlich sprechen, und in seiner Erinnerung klafft ein tiefes Loch. Freunde helfen ihm heute, sachte die Lücken zu füllen. Sie wissen, dass er an jenem Sonntag mittags von einem Besuch bei seiner Freundin Monika im niedersächsischen Northeim mit seinem Auto nach Leipzig gefahren ist, um einen Freund abzusetzen und unterwegs einen Reifen wechseln musste. Von Leipzig aus wollte er nach Hause ins Berliner Umland fahren, zuvor aber noch in Berlin ins Kino gehen. Er könnte am frühen Abend in Berlin angekommen sein, den Film gesehen und danach, spätabends, noch einen Sprung „auf die Szene“ gemacht haben. Sammy ist schwul. Cruisen ist ihm allerdings schon länger viel zu gefährlich. „Und was mich wundert“, sagt er heute, „ich habe Brieftasche und alles im Auto gelassen.“ Was nicht seine Art ist. Vielleicht wollte er nur kurz austreten? Jedenfalls stellt er das Auto auf der Straße des 17. Juni ab.
Weil es auch nicht seine Art ist, sich nicht von zu Hause zurückzumelden – er ist schwerbeschädigt –, werden die Freunde aktiv. Monika gibt per Internet am 15. August eine Vermisstenanzeige bei der Brandenburger Polizei auf. In der kommt auch das Auto vor. Eine Funkstreife fährt auch sofort zu Sammys Wohnung und stellt auch fest, dass das Auto fehlt. Monika telefoniert mehrmals mit der dortigen Polizei und dann mit einer Nummer in Berlin, die ihr die Brandenburger geben, damit sie da noch mal selber „Dampf machen“ kann. Sie ruft am 17. August beim Raubdezernat VB III 1 an. Man sagt ihr, sonntags sei nur eine „magere Besetzung“ da, notiert aber ihre Frage, ob das Auto in Berlin in der Fahndung sei, und das Aktenzeichen ihrer Internetanzeige. Montag bekommt sie einen Rückruf von VB III 1, die Sachbearbeiterin sagt ihr, sie habe die Anzeige gelesen, und verspricht, sich zu kümmern. Monika weiß inzwischen, was mit Sammy passiert ist, und erzählt der Kommissarin von VB III 1 in diesem Gespräch auch vom verschwundenen Auto. Danach hört sie nichts mehr aus Berlin.
Am 26. September stellt Bastian Finke die Auto-Frage noch einmal beim Raubkommissariat VB III 1. „Und da war man ein bisschen überrascht“, erzählt er, „weil man gar nichts wusste von einem Auto, wollte sich aber gleich drum kümmern.“ Just an diesem Tag wird Sammys Auto zum zweiten Mal umgesetzt. Beide Umsetzungen erfolgten, weil da, wo es stand, wegen einer Veranstaltung kurzfristig Parken verboten war, bei keiner haben die Beamten den Halter abgefragt. Müssen sie auch nicht, es hatte kein Berliner Kennzeichen. Aber auch die Stelle, an der Umsetzungen datenverarbeitet werden, war anscheinend nicht informiert darüber, dass dieses Auto die Kripo interessiert – es könnte immerhin Hinweise auf die Täter enthalten, DNA-Spuren gar. Sie könnten es ja auch gestohlen haben – Sammys Autoschlüssel ist bis heute weg. Vielleicht hat der zarte, lebenslustige schwule Mann in den mittleren Jahren die drei jungen Männer vorher aufgegabelt und mitgenommen?
Sicher gehen kann Sammy immer noch nicht, und auch seiner Sprache hört man noch an, dass er sie mühsam zurückerobern musste. Bei Sammy trudeln dafür die Gebührenbescheide ein, über dreihundert Euro soll er zahlen, unter Androhung von Vollstreckungsverfahren und weiteren Kosten. Die beiden Fragen, die Sammy belasten und in der Szene Unruhe auslösen, bleiben unbeantwortet. Polizeipräsident Dieter Glietsch konnte zum konkreten Fall nichts sagen, der Präventionsbeauftragte Uwe Löher verweist an das Raubkommissariat. Diese Dienststelle allerdings beantwortet keine Presseanfragen, das übernimmt die Leiterin der Polizeipressestelle. „Eine Fahndungsmeldung für das Auto kam nie in Berlin an“, sagt Heike Nagora, „und der Geschädigte war ja nicht mehr vermisst, als er im Krankenhaus lag.“ Das zuständige Raubkommissariat habe „am 26. September durch einen Anruf von Sebastian Finke vom schwulen Überfalltelefon zum ersten Mal von einem verschwundenen Auto gehört.“
Die andere Frage beantwortet sich für die Zeit nach Ende Oktober von selbst. Da hatte, laut Pressesprecherin Nagora, die Polizei die Akte abgeschlossen und an die Staatsanwaltschaft geleitet. „Schwerer Raub nach § 250 StGB“ zu drei unbekannten Tätern, „auf die es keine brauchbaren Hinweise“ gab. Warum die Kripo Sammy nicht vorher mal befragt hat, kann niemand sagen. „Auch wenn er sich an die Tat nicht erinnern kann“, seufzt Maneo-Mitarbeiter Bastian Finke, „es hätte ihm zumindest deutlich gemacht, dass die Polizei auf seiner Seite ist, ihn ernst nimmt, und das wäre für ihn hilfreich gewesen.“ Denn Sammy Meyer ist ein Verbrechensopfer aus einer Gruppe von Menschen, die nicht nur aus historischen Gründen „im Kopf, im Herzen davon ausgehen: Ich werde angegriffen, weil ich homosexuell bin“, wie Dieter Glietsch sagt, „und bei denen deshalb die Polizei auch die Verpflichtung hat, alles zu tun, um Vertrauen aufzubauen und erarbeitetes Vertrauen nicht zu gefährden.“
Pieke Biermann