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Aktion junger Muslime: Respekt lernen, Verantwortung übernehmen

Junge Berliner Muslime werben für ihren „Code of Ethics“. Zur Langen Nacht der Religionen sind sie auf dem Schlossplatz.

Friedrichshain im August, Hinterhof, Studio „Noisy Rooms“. Im Proberaum frickeln Scherin Khieschman, Lisa Rodova, Daniel Khanukov und Kevin Jessa an einem Song. „We all have the right to be free, we’re different, but that’s the balance we need...“ Scherin Khieschman schüttelt den Kopf: irgendwie zu melancholisch. Mehr Reggae, mehr Funk? Bald ist klar, wohin es mit Melodie und Text gehen soll.

Die vier sind Anfang 20 und verbringen seit zwei Jahren viel Zeit mit etwas, das sich „Juma“ nennt. Keine Sportart, sondern ein Kreis von 40 jungen, aktiven Muslimen. Jung heißt: zwischen 17 und 30 Jahren. Muslimisch heißt: Religion ist ihnen wichtig, mittlerweile machen aber auch Christen und Juden mit. Aktiv sein heißt: raus auf Straßen, Klischees vertreiben, diskutieren, rappen, twittern.

Bei Juma aktiv ist auch Betül Ulusoy, Jurastudentin, 23 Jahre. Die gläubige Muslima hat erst am Mittwoch – nur Stunden, nachdem bekannt wurde, dass ein Rabbiner von Jugendlichen überfallen worden ist – einen Aufruf zum Kampf gegen solche Taten geschrieben. Schon vor einigen Wochen haben die Juma-Aktivisten einen „Code of Ethics“ herausgebracht: Verantwortung, Respekt, Offenheit, Wissen, Vergeben, Empathie, Gerechtigkeit. Wenn sich die Berliner mit dem Kanon auseinandersetzen, eigene Positionen hinterfragen und versuchen, danach zu leben, so die Idee, würde das Zusammenleben besser klappen. Erst mal müssen die Berliner vom Code und den guten Absichten erfahren.

An diesem Sonnabend, zur Langen Nacht der Religionen, treffen sich die jungen Muslime zwischen 12 und 16 Uhr auf dem Schlossplatz in Mitte mit einer Pappleinwand. Darauf sind viele „Jumaner“ zu sehen. Ziel ist es, Berliner zu motivieren, sich davor fotografieren zu lassen – als Zeichen, dass sie dazugehören und den Code unterstützen. „Und dann ziehen wir damit bis Oktober durch die Stadt“, sagt Sawsan Chebli, die das Projekt koordiniert und für Innensenator Frank Henkel (CDU), den Schirmherrn, arbeitet. Gegen Verantwortung, Respekt, Offenheit, Wissen, Vergeben, Empathie und Gerechtigkeit hat wohl niemand etwas. Aber die Jumaner wollen keine Lippenbekenntnisse. Sie meinen es ernst. Da wird es schwierig. Endet etwa Respekt nicht oft, wo er beginnen müsste – wenn jemand grundsätzlich anders denkt als man selbst? Die Jumaner wissen das. „Niemand kann uns die Vergebung lehren, da gibt es keine Formel, die du auswendig lernst“, hat Janine Nouri zum Code „Vergeben“ geschrieben. „Manche Menschen vergeben erst nach Tagen, Wochen, Monaten, Jahren. Manche brauchen ihr ganzes Leben.“ Man müsse es versuchen, sagt Janine. Damit sich nichts aufstaut, damit aus Unmut kein Hass wird. „Wir erwarten keine Revolution“, sagt Betül Ulusoy. „Es reicht schon, wenn die Berliner darüber nachdenken.“ Wenn sie dann noch ihre Unterschrift geben oder per Foto die Kampagne unterstützen, wäre das das „I-Tüpfelchen“.

Am Nachmittag vor den Proben im Aufnahmestudio stehen Betül Ulusoy und andere Jumaner am Rathaus Neukölln und sprechen junge Frauen und Männer an. An diesem Tag geht es um: Verantwortung. Sie wollen über Spielsucht aufklären. „Ein Riesenthema“, sagt Janine Nouri. Ein Freund von ihr sei spielsüchtig: Geld weg, Schulabschluss weg, Freundin weg. Bei Janine Nouri, schwarze Locken, dunkle Augen, bleiben junge Männer gerne stehen. Einige geben zu, dass sie in Wettbüros und Casinos gehen, viele kennen Freunde, die dort Stammkunden sind. Die Leute sollen sensibilisiert werden und sich mit einer roten Spielkarte in der Hand als Verbündete im Kampf gegen Spielsucht fotografieren lassen. Das Foto soll auf der Projekthomepage gezeigt werden.

Wozu braucht es überhaupt einen Code? Reicht das Grundgesetz nicht? „Das Grundgesetz ist die Grundlage, klar“, sagt Betül Ulusoy. „Aber es ist sehr abstrakt, außerdem ist es eine Weile her, dass es geschrieben wurde – von alten Männern. Wir füllen es neu mit Leben.“ Meinungsfreiheit übersetze der Code mit Offenheit. Ob der Code wirkt, testen die Jumaner an sich selbst. Betül Ulusoy übt Vergeben, jeden Tag aufs Neue, etwa im Supermarkt, wenn sie von der Kassiererin wieder als Einzige nicht gegrüßt werde, vermutlich wegen ihres Kopftuchs: „Ich will mich nicht ärgern und die Szene schnell vergessen. Klappt nicht immer. Aber immer öfter.“ Mehr Infos: www.juma-projekt.de. Und zur Langen Nacht der Religionen: www.lndr.de. 70 Kirchen, Moscheen, Tempel und Begegnungsstätten öffnen am Samstag von 18 bis 23 Uhr ihre Türen. Es gibt Vorträge, Gebete, Meditationen, Erklärungen.

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