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Berlin: „Rio ist heute bei uns!“

Tausende beim Konzert von Ton Steine Scherben

Der Oranienplatz war bunt, so viele Leute wollten die legendärste aller Berliner Bands sehen. Auf den Tag genau vor 35 Jahren, am 1. Mai 1972, hatten Ton Steine Scherben ihr letztes Konzert in Kreuzberg gegeben. Damals noch mit Deutschlands 1996 verstorbenem Sängerkönig Rio Reiser. „Rio ist heute bei uns“, ruft ein Bandmitglied vor dem Konzert. Und mehrere Tausend Menschen jubeln ihm fröhlich zu. Sie sind wohl ein Querschnitt durch die linksalternative Szene Berlins der letzten vier Jahrzehnte: Silberhaarige Rechtsanwälte haben den Weg zum Oranienplatz gefunden, ebenso junge Eltern mit Lederjacken und Kindern auf den Schultern. Auf dem Dach der Bushaltestelle fotografieren sich ein paar Teenager mit grünen Haaren mit ihren brandneuen Digitalkameras. Drei blaue Luftballons mit der weißen Friedenstaube tänzeln im Wind über der Menge.

Es herrscht ausgelassene Stimmung, als zur wehmütigen Filmmusik von „Winnetou“ die zehnköpfige Band, die sich heute Ton Steine Scherben Familiy nennt, auf die Bühne steigt. Sie eröffnet mit „Wir müssen hier raus“, einem der schönsten Songs der Scherben. „Wir sind geboren, um frei zu sein, wir sind zwei von Millionen, wir sind nicht allein“, singt Rio-Reiser-Ersatz und Gitarrist Marius del Mestre. Doch die Zeilen kommen nur in den ersten Reihen vor der Bühne an. Der Tontechniker der Scherben scheint selig hinter der Bühne zu schlafen. Das Schlagzeug ist zu laut, die Gitarren sind zu leise, und die Mikros wie auf stumm geschaltet. Der Sound ist unter aller Kanone, scheppert wohl genauso wie anno 1972. Doch das macht den Fans nichts, man kennt die Lieder der Scherben auswendig.

Darunter sind Songs wie „Mensch Meyer“, der von einem Schwarzfahrer handelt. „Nee, nee, nee, eher brennt die BVG!“, geht der Refrain, und der Oranienplatz singt mit. Doch es ist eher eine ironische Reminiszenz, als eine ernst gemeinte Aufforderung. „Ich habe eine BVG-Jahreskarte“, sagt ein älterer Arzt, der mit seiner Frau in der Menge steht und die Zeilen mitspricht.

Dennoch will die Ton Steine Scherben Family nicht als bloße Polit-Folklore wahrgenommen werden. Sänger und Flötist Jörg Schlotterer lädt die Menge zum G8-Gipfel nach Heiligendamm ein, um gegen die „Herren dieser Welt“ zu protestieren. Dann spielen sie einen der bekanntesten Scherben-Songs, dessen Refrain es zu einem geflügelten Wort in der alternativen Szene gebracht hat: „Keine Macht für niemand“, schallt es vielkehlig über den Oranienplatz. An dessen Rande stehen vier Polizisten und blinzeln in die untergehende Abendsonne. lich

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