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Über Bord. Lesebühnenautor Tilman Birr lebt in Friedrichshain.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlintouristen als Buch und Show: Runter vom Narrenschiff

Nach 2800 Kilometern als Stadtbilderklärer hatte Tilman Birr genug gesehen – und wurde Kabarettist. Im Buch „On se left you see se Siegessäule“ erzählt er von seinen Abenteuern mit den Spreetouristen.

In meinem Stammcafé treffen wir uns lieber nicht, schreibt Tilman Birr. „Das ist das Bordbistro im ICE.“ Nicht schlecht. Der Lesebühnenautor, Poetry Slammer und Kabarettist schickt eine Dreizeilenmail und hat schon den ersten Lacher. Mit einer Kahnpartie auf der Spree, wie es sein erstes Buch „On se left you see se Siegessäule“ über die Abenteuer eines Stadtbilderklärers nahelegt, sieht’s im Januargrau auch nicht so doll aus. Da schlägt er stattdessen lieber das Café Intimes in der Boxhagener Straße vor, dort wohnt er gleich um die Ecke.

Und zwar wie eh und je in einer Studenten-WG. Zu dritt, mit zwei Mitbewohnerinnen. „Ich bin auf Tour schon genug allein, eine Freundin habe ich nicht, da ist es schön, wenn zu Hause was los ist.“ An seiner bevorzugten Lebensform hat sich für Tilman Birr auch im Alter von 32 Jahren und als Kabarettist mit bis zu 20 Auftritten im Monat und einer Vielzahl von wunderlich betitelten Kleinkunstpreisen im Sack seit 13 Jahren nichts geändert. „Ich hab’ immer gern wie ein Student gelebt und lebe jetzt gern weiter so.“ Im Jahr 2000 ist der gebürtige Frankfurter zwecks Studiums der Geschichte, Anglistik und Soziologie an der Humboldt -Uni nach Berlin gezogen. Und dann dauerte es auch gar nicht lange, bis er in den Sog der expandierenden Lesebühnenszene geriet. Bis zum vergangenen Jahr war Tilman Birr festes Mitglied der Samstagsshow in der Z-Bar, jetzt moderiert er einmal im Monat den „Saalslam“ im Heimathafen Neukölln und daheim in der Lesebühnen-Diaspora Frankfurt am Main betreibt er seit elf Jahren die erste und einzige am Platze, „Lesebühne ihres Vertrauens“ genannt.

Das Programm, mit dem er vom heutigen Donnerstag bis Sonnabend auf der Bühne des Kookaburra Comedyclubs steht, ist nach „Das war hier früher alles Feld“ sein zweites Solo. Sozusagen die Show zum Buch, in der er aus seinen Erlebnissen eines Stadtbilderklärers vorliest und dazwischen lustige Lieder zur Gitarre singt. Letztere erscheinen in zwei Wochen auch erstmals als Album mit dem rätselhaften Titel „Die Gesellschaft verurteilt sowas schnell“. 2008 war weder an eine CD noch an ein eigenes Buch zu denken, da hat sich der frisch gebackene Magister Artium und Nebenberufskünstler Birr noch mit dem Job durchgebracht, der dann sein jüngster satirischer Stoff geworden ist. Von Juni bis November verdingte er sich eine Saison lang als Touristendompteur auf den Spreebooten der Reederei Kreuz und Krone. Ein Name, der selbstredend nur ganz zufällig an eine Reederei ähnlichen Namens erinnert. „Stadtbilderklärer“ nannte ihn da die aus Kapitän, Bootsmann und Kellner bestehende Besatzung. Eine Bezeichnung, die Freunden vergessener Worte aus dem DDR-Begriffslexikon gar lieblich in den Ohren klingelt. So hießen nämlich in Ost-Berlin, wo das Wort „Führer“ aus bekannten Gründen als unziemlich galt, die Fremdenführer. „Deshalb hieß ja der Führerschein in der DDR auch Fahrerlaubnis“, sagt Tilman Birr, der ja nun Wessi ist, sich aber als Autor einer Magisterarbeit über DDR-Kabarett als Kenner des Lebens hinter dem antifaschistischen Schutzwall empfiehlt.

Als Stadtbilderklärer bekommt es der Tilman heißende, Geschichte studierende und in einer WG wohnende Held seines Buches mit seltsamen Vögeln aus Ost und West, Nord und Süd zu tun. Die stark dialogisch geschriebenen, munteren Episoden strotzen nur so vor politisch unkorrekten Nationalitäten- und Einheimischenklischees. „Alles nur Satire“, winkt Tilman Birr ab und sagt, dass er das von spackigen Techno-Spaniern, Hellersdorfer Herrentagsprolls, zackigen Stalingrad-Rentnern und Hitler-geilen Amis okkupierte Buch ganz gewiss nicht als Diskussionsbeitrag zur im vergangenen Jahr hochgekochten Touristendebatte konzipiert habe. „Es geht auch gar nicht um Nationalitäten, sondern um Milieus“, sagt Birr. „Die Hemmungen verlieren meistens eingeschlechtliche Gruppen, die frei von ihrem Alltagsleben und ihren Ehepartnern haben, also Männergesangsvereine und so.“

Die informierte Birr auf Deutsch und Englisch auf der einstündigen Bootstour zwischen Mühlendammschleuse und Schloss Bellevue. Fünf- bis sechsmal am Tag dieselbe Route, dieselbe Rede über Stadtgeschichte, Gebäudehöhen, Berühmtheiten. Mal mehr mal, weniger willig von den Zuhörern angenommen. Am Ende des Saison hatte er 2800 Spreekilometer zurückgelegt, 16 000 Touris Berlin erklärt, 3000 Euro Trinkgeld bekommen und 400 Mal den selben Text gesprochen, wurde einmal als Nazi beschimpft und einmal für einen Drogendealer gehalten. Nur mit seinem Helden Lemmy Kilmister von Motörhead hat Tilman Birr – anders als im Buch zu lesen – nie eine Nacht lang durchgesoffen.

Kookaburra Comedyclub, Schönhauser Allee 184, Prenzlauer Berg, Do–Sa 20.30 Uhr, ab 12 Euro; Tilman Birr: „On se left you see se Siegessäule“, Manhattan Verlag, 304 S., 17 Euro (ab Mai als Taschenbuch)

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