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Berliner Parks

© ddp

Berlins Ästhetik: Weltoffen und ignorant

Was ist das für eine Stadt, in der Fahrradfahren mit Licht als spießig gilt und beinahe jede Schmiererei Kunststatus erhält? Die Berliner scheinen alles zu tolerieren - ihrer Heimat tut das nicht immer gut.

Natürlich wieder Berlin. Noch nie haben wir davon gehört, dass irgendwelche Verrückte mit Feuerlöschern voller Farbe in der Morgendämmerung über die Fassade von Harrod’s in London, von Lafayette in Paris oder Macy’s in New York herfallen. Passiert es dem KaDeWe wie in der vergangenen Woche, wundert sich aber im Grunde niemand: Berlin gilt weltweit als Magnet für alles und jeden, es ist hip und kreativ und locker und leckmichamarsch, und da ist es im Grunde kein Wunder, dass neben ganz normalen Touristen auch die Internationale der sprühenden und schmierenden Selbstverwirklicher anreist, um sich hier jenen Ruhm zu verdienen, den ihre ortsansässigen Mitglieder offenbar schon längere Zeit besitzen.

Die Grundfrage ist freilich, ob Berlin an diesen Zuständen selbst schuld ist – oder sie wie eine Grippepidemie einfach nur zufällig ertragen muss. Klar: Eine Stadt wie Berlin kann nicht an den Grundsätzen gemessen werden, die für reiche Bürgermetropolen wie Hamburg oder München gelten. Doch leider erreichen wir, was den gefühlten ästhetischen Gesamtzustand der Stadt angeht, im Moment nicht einmal Amsterdam oder Lissabon.

Auch klar: Eine gewisse lockere Haltung, die man Nonchalance nennen mag oder auch Anarchie, ist nun einmal die Voraussetzung dafür, dass sich jene jungen, kreativen Menschen wohlfühlen, die ihr Lebensziel nicht in der akkuraten Abheftung ihrer Versicherungsverträge sehen. Sie sind die Zukunft von Städten wie dieser, das stimmt ja, auch wenn es unentwegt immer wieder behauptet wird. Aber der Untergang der Bürgerlichkeit bedeutet eben auch den Untergang des Bürgersinns, der solche Großstädte geistig zusammenhält wie der Mörtel ihre Gebäude. Es spricht einiges dafür, dass die Beliebtheit Berlins als Entsorgungspark für die Verlierer dieser Welt und ihre seltsamen Ausdrucks- und Existenzformen mit der Haltung der Berliner selbst zu tun hat: Es ist die regionale Variante der New Yorker „Broken-Window“-Theorie, die besagt, dass die Verwahrlosung einer ganzen Nachbarschaft damit beginnt, dass irgendjemand die Scheiben eines geparkten Autos einschlägt.

Das ist in Berlin eher selten, auch wenn sich ein paar durchgedrehte Ökostalinisten darauf verlegt haben, sogenannte „Bonzenautos“ in Flammen aufgehen zu lassen. Es geht eher um die Kleinigkeiten, die wir trotz gelegentlicher Aufschreie längst als alltäglich akzeptiert haben, nicht nur Graffiti und zerkratzte U-Bahn-Scheiben, sondern Hundehaufen und Alltagsabfall. Und um verwahrloste Verhaltensweisen, die Ausdruck der dahinterstehenden Haltung sind.

Wer als Außenstehender nur einmal erlebt hat, wie die Radler von, sagen wir, Prenzlauer Berg sich nachts die Straßen ihrer Umgebung zur Beute machen und ohne Licht und Verstand wie die Fledermäuse herumhuschen, der wird nicht behaupten können, dass es sich dabei um eine authentische Lebensäußerung kreativer junger Leute handelt. Es ist vielmehr schlicht asozial. Wer fragt, erhält im Zweifel den berlintypischen Hinweis, dass „die anderen“ es ja auch nicht besser machen. Die anderen, das sind beispielsweise die wild parkenden und immer bedenkenloser über rote Ampeln hinwegrasenden Autofahrer, die schon ihn ihrer Eigenschaft als Kohlendioxidausstoßer moralisch ohnehin einen schlechten Stand haben. Wer radelt, fühlt sich schon deshalb als besserer Mensch und leitet daraus die Lizenz zum Ignorieren einfachster Regeln ab – nur ein Beispiel.

Es gibt ja immer eine Entschuldigung, und wenn es nur ein absurdes Expertenurteil ist. Kein Graffito kann so ärmlich sein, dass es nicht doch von irgendeinem Kunstprofessor zur ästhetisch adäquaten Ausdrucksform der urbanen Avantgarde hochgejubelt wird, ungeachtet der Tatsache, dass die letzten avantgardistischen Graffiti vermutlich um 1960 entstanden sind. Da ist die BVG zu verstehen, wenn sie seufzend die immensen Kosten für den Ersatz von zerkratzten Scheiben und zerstochenen Polstern in die Bilanz einrückt und still hofft, dass wenigstens nicht noch mehr Fahrgäste es als ihr Menschenrecht ansehen, in der U-Bahn Döner und Pommes rot-weiß zu verschlingen. Machen doch alle! Immerhin ereignen sich bisweilen kleine Wunder: Die lächerliche, praktisch undurchsetzbare Drohung, das Rauchen auf Bahnhöfen mit 15 Euro Strafe zu belegen, hat weitgehend funktioniert – praktisch umgehend verschwanden die Kippengebirge zwischen den Gleisen.

Solche Wunder geschehen in den Grünanlagen der Stadt nicht, weil deren Zustand von den Bürgern nur teilweise zu beeinflussen ist. Hundekot und wildes Grillen sind hässlich, gewiss, und bestimmte Anlagen wie die Hasenheide oder die Lesssinghöhe in Neukölln gelten bekanntermaßen als rechtsfreie Zonen. Doch wie es draußen in den „normalen“ Bezirken zugeht, das interessiert niemanden mehr. Nehmen wir die Tegeler Humboldt-Bibliothek, eine Architektur-Ikone internationalen Rangs: Sie steht in einem grotesk verwahrlosten Gestrüpp, das an die Außenbezirke von Neapel erinnert. Der Finanzsenator behauptet immer wieder, das Geld für Anlagenpflege sei da, und die Bezirke entgegnen, sie hätten aber keins. Und aus diesem Ringelreihen kaufen sich die Verantwortlichen frei, indem sie billige Privatfirmen mit schwerem Gerät und weitgehend ahnungslosen Mitarbeitern der Ein-Euro-Job-Kategorie ein Mal jährlich in die Sträucher schicken und dort alles auf Kniehöhe abrasieren lassen. Kein Wunder, dass jeder Berliner, der eine andere Großstadt besucht, dort in der nächstbesten Grünanlage beglückt auf eine Bank sinkt, die Rosen betrachtet und beginnt, Umzugspläne zu schmieden.

Schwer, empirisch verlässlich zu sagen, welche Städte sauber sind und welche dreckig. Mag sein, dass der Ruf Berlins, dreckig zu sein, den kritischen Blick auf manche Kleinigkeit lenkt, die wir anderswo übersehen würden – eine Art selbsterfüllender Schmutzprophezeiung. Es liegt sicher am allerwenigsten an der Stadtreinigung, die einen anerkannt guten Job macht. Doch auch ihr gelingt es nicht einmal, das eigene Erscheinungsbild so zu polieren, dass es dem Durchschnittsniveau einer Metropole der reichen westlichen Zivilisation entspricht: Man betrachte nur den Zustand der Abfallbehälter an den Straßen, deren orange Grundfarbe oft unter mehreren Schichten abgefetzter Aufkleber kaum noch zu sehen ist. Wenn aber schon die Behälter eklig sind, welchen Grund sollte es dann geben, den Müll dort hineinzuwerfen und nicht gleich auf die Straße?

Aufkleber, natürlich. Wozu sind die eigentlich gut? Möchte irgendjemand, der zu Fuß die Stadt durchquert oder mit der U-Bahn fährt, wirklich wissen, dass es am 23.7. um 22 Uhr einen Auftritt von King Jah & The Wobbles im Bitch-Club in der Franz-Fröhlich-Straße geben wird? Das Zeug pappt dann drei Jahre an der Laterne. Nicht einmal, wenn Nazis mit einer Aufkleberkampagne mobilisieren wollen wie im letzten Jahr mit dem Porträt von Rudolf Hess, fühlt sich irgendjemand für die Beseitigung zuständig. Die Polizei verweist ans Ordnungsamt, und dort grinsen sie sich eins und betreuen lieber ihre Parksünder, weil ja die Kohle reinkommen muss.

Was den Staat und seine Ordnung angeht: Das Gefühl, von dort drangsaliert und abgezockt zu werden, und sei es nur im wundersamen Wachstum immer neuer Parkzonen, ist ja nicht ganz realitätsfremd. Und es dient uns dann als moralische Grundlage für Verstöße aller Art, getragen vom angenehmen Gefühl, es „denen da oben“ mal richtig gezeigt zu haben. So trägt der Staat zur Erosion des Bürgersinns und zur Ausbreitung einer Wegsehkultur bei, die seine Funktionsträger dann später ebenso wortreich wie folgenlos beklagen.

Berlin ist erfolgreich, trotzdem, und die Touristen lieben es. Es wäre aber ein gefährliches Missverständnis, dies mit der Verwahrlosung des Stadtbildes zu begründen. Ja, die Besucher kommen trotzdem. Aber das muss ja nicht automatisch immer so bleiben.

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