zum Hauptinhalt
Malermeister Jens Nitze (vorne) schenkt Mitarbeitern mit Behinderung sein Vertrauen – und sie zahlen es ihm zurück.

© Doris Spiekermann-Klaas

Bestes Kleinunternehmen 2013: Team mit vielen Farben

Seit 20 Jahren beschäftigt die Malerei Nitze in Berlin-Kaulsdorf Menschen mit Handicap. Auch wenn der Arbeitsalltag seine Tücken hat: Auf ihre Fachkenntnisse will der Chef nicht verzichten.

Es war während einer sommerlichen Autofahrt, als der diabeteskranke Mitarbeiter von Jens Nitze plötzlich einen schweren Zuckerschock erlitt. Es brauchte einige Augenblicke, bis Nitze die Situation erkannte, das Auto am Straßenrand anhalten und dem Kollegen helfen konnte. In den hektischen Momenten war Nitze völlig entgangen, dass der Mitarbeiter unter seinen ruckartigen Krämpfen den Generalschlüssel einer Häuseranlage im hohen Bogen aus dem Seitenfenster geworfen hatte. Das teure Stück war unauffindbar in der Böschung einer brandenburgischen Landstraße verloren.

Dramatische Erlebnisse wie dieses sind im Alltag des Malereibetriebes die Ausnahme. Und doch verdeutlicht die Episode, dass es in der Zusammenarbeit mit behinderten Menschen immer zu unerwarteten Situationen kommen kann. „Man muss versuchen, sich ein wenig in die Lage der behinderten Kollegen hineinzuversetzen“, sagt Nitze. „Umso leichter bringt man Verständnis und Geduld auf, die bisweilen nötig sind.“ In seiner Firma ist das mittlerweile fast schon eine Selbstverständlichkeit: Seit zwanzig Jahren sind Mitarbeiter mit Behinderung in dem Kaulsdorfer Betrieb beschäftigt. 1992 gründeten Jens Nitzes Eltern Sonnhild und Klaus das Unternehmen, bereits ein Jahr später wurde ein erster gehörloser Kollege eingestellt. Womöglich spielte damals eine Rolle, dass die Eltern selbst unter körperlichen Einschränkungen litten und somit aus persönlicher Betroffenheit aufgeschlossen dafür waren, auch Mitarbeitern mit Handicap eine Chance zu geben.

Am Anfang wurde mit Händen und Füßen geredet

Seit jener Zeit sind Kollegen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen zum festen Teil der Belegschaft geworden. „Natürlich war es anfangs nicht leicht, sich etwa mit gehörlosen Mitarbeitern zu verständigen“, erinnert sich Nitze, der die Firma 2007 von den Eltern übernahm. Da wurde mit Händen und Füßen geredet, „manchmal musste auch eine zu bearbeitende Wandfläche für schriftliche Erläuterungen herhalten.“ Im Laufe der Zeit aber hat man gelernt, wie man am besten miteinander kommuniziert. Die hörenden Mitarbeiter haben zum Beispiel immer wieder erlebt, dass ihre gehörlosen Kollegen bestimmte Sachverhalte oder auch nur Stimmungen über Bewegungen und Körpersprache rasch erkennen und verstehen können.

Als Chef ist Jens Nitze voll des Lobes für seine behinderten Mitarbeiter. Motivation und Verlässlichkeit, so seine Erfahrung über all die Jahre, seien überdurchschnittlich. Mitunter spürt er auch eine gewisse Dankbarkeit, dass er gerade ihnen das Vertrauen schenkte. Und dieses Vertrauen zahlen sie ihm zurück. Torsten Riemer etwa, schwer hörgeschädigt und seit 1994 bei der Malerei, hat sich zu einem Experten an einer teuren Spritzmaschine entwickelt, die er wie kein Zweiter zu bedienen und zu pflegen versteht. Ein weiteres Urgestein des Betriebs ist Gerhard Domke, ebenfalls seit 1994 dabei. Seine angeborene Gehörlosigkeit hindert ihn nicht daran, Lackarbeiten selbstständig und mit großer Präzision auszuführen. Wie vertrauensvoll der Umgang miteinander ist, belegt die Tatsache, dass Domkes nichtbehinderte Tochter ihre Ausbildung ebenfalls bei den Nitzes absolvierte.

Jens Nitze erlebte selbst, wie das Schicksal zuschlagen kann

Es sei wichtig, so der Chef, auch zu den Familienangehörigen der behinderten Mitarbeiter einen guten Kontakt zu halten. So sehr sich die Arbeitsabläufe an den Baustellen auch eingespielt haben mögen, manches berufliche oder auch persönliche Detail lasse sich eben doch nur durch Gebärdensprache oder direkte Aussprache klären. „Genauso entscheidend ist, dass wir im Betrieb die richtigen Ansprechpartner für unsere behinderten Kollegen finden, die sich auf sie einlassen und die entsprechende Ruhe und Menschenkenntnis mitbringen“, sagt Nitze. Das betrifft insbesondere die vielen Berufspraktikanten mit Behinderung, die über die Jahre erste Praxiserfahrungen in dem Handwerksbetrieb gesammelt haben. Wenn es dennoch einmal zu ernsteren Problemen kommt, sind die berufsbegleitenden Fachdienste des Integrationsamtes erste Anlaufstelle, um aufgetretene Konflikte unabhängig zu beurteilen.

Dass niemand eine Garantie hat, sein Leben lang uneingeschränkt und mit voller Tatkraft arbeiten zu können, hat Jens Nitze in der jüngeren Vergangenheit am eigenen Leib erlebt. 2009 wurde bei ihm ein Gehirntumor festgestellt. Eine Diagnose, die ihm und seiner Familie zunächst den Boden unter Füßen wegriss. Doch Nitze überstand die komplizierte Operation, kämpfte sich anschließend in achtmonatiger Reha zurück ins (Berufs-)Leben. Seither zählt er mit einem Behinderungsgrad von 60 Prozent selbst zu den aktuell sieben behinderten Mitarbeitern unter den insgesamt achtzehn Beschäftigten des Betriebs.

„Wenn ich mein Hörgerät mal vergessen habe, dann muss mein Gegenüber besonders laut und deutlich sprechen, damit ich etwas verstehen kann“, sagt Nitze. Er kann nun noch besser nachvollziehen, was es heißt, den Arbeitsalltag trotz körperlicher Einschränkungen zu meistern. Schnelle Kopfbewegungen, wie zum Beispiel beim Fahrradfahren, sind ihm nicht mehr möglich, bisweilen fällt ihm bei Stress die Konzentration ein wenig schwerer. Er weiß, dass auch er nun in bestimmten Situationen auf Verständnis angewiesen ist.

Verständnis hatte übrigens auch die Hausverwaltung, deren wertvoller Generalschlüssel an jenem Sommertag im Gebüsch des Straßengrabens verloren ging. Als Jens Nitze die Verkettung der unglücklichen Umstände geschildert und so den Verlust erklärt hatte, machte man daraus keinen aufwändigen Versicherungsfall – sondern begnügte sich mit einem Aktenvermerk.

Klaus Grimberg

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false