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Soldidarität: Es gibt auch Berliner, die in Prenzlauer Berg Herz zeigen für die Zugezogenen aus Deutsch-Südwest.

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Thierse-Debatte: Es muss g’schwätzt werda

Wolfgang Thierse übt sich in Wiedergutmachung. In der ARD soll der SPD-Politiker am Donnerstag zeigen, wie viel er von schwäbischer Mundart versteht. Die Debatte lehrt, dass Berlin eine neue Minderheiten-Politik braucht.

Auf die eigene Sprachkompetenz hat man sich in Baden-Württemberg bislang nicht viel eingebildet. „Wir können alles außer Hochdeutsch“, lautet das Motto der Eigenwerbung, was soviel bedeutet wie: Obwohl wir nicht richtig reden können, haben wir was auf dem Kasten.

Mit der Zurückhaltung ist Schluss, seit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sich unverhohlen darüber ärgerte, dass er beim Bäcker in Prenzlauer Berg statt Berliner Schrippen nur noch Wecken bekommt und die schwäbischen Einwanderer deshalb zu mehr Integrationsanstrengungen aufrief. Der SPD-Politiker, der in der Asyl- und Flüchtlingspolitik stets als Mahner für das Menschenrecht auftrat und seine aufrechte Haltung für die weltoffene Gesellschaft in Sitzblockaden gegen Neonazi-Demonstranten verteidigte, ausgerechnet er löste mit seiner Interview-Äußerung eine Welle der Empörung, aber auch Zustimmung aus – und hat damit eine innerdeutsche Überfremdungsdebatte ausgelöst.

In der Logik linksintellektueller Dialektik könnten die Schwaben aus Thierses Vorstoß für den Heimatschutz sogar Gewinn ziehen. Denn dessen Verteidigung von Icke-Identität und Berliner Schnauze gegen eine vermeintlich drohende Schwabylonisierung erhebt die Schwaben in den Stand einer verfolgten Minderheit. Und verfolgte Minderheiten genießen in der politischen Linken ein natürliches Anrecht auf Sympathie. Von breiten Basis der Schwaben im traditionell konservativen und neuerdings auch grünen Spektrum ganz zu schweigen.

Angesichts solchen gesellschaftlichen Gewichts gibt es wenig Anlass zur Hoffnung, Berlins Schwaben-Community könnte klein beigeben und sich assimilieren. Hinzu kommt, dass ihnen aus der Heimat kräftig der Rücken gestärkt wird.

Unversehens ist Wolfgang Thierse in die Rolle des schrulligen Almöhis aus Prenzlauer Berg geraten, dem nichts anderes übrig bleibt, als sich dem Sturm der Entrüstung, der ihm aus Deutsch-Südwest entgegenbläst, tapfer zu stellen – und Wiedergutmachung zu üben. Um Druck aus dem Kessel zu nehmen, ist er offenbar sogar bereit, sich zur Lachnummer zu machen.

Am Donnerstag soll der SPD-Politiker auf Einladung des Südwestrundfunks im Vormittagsprogramm des Ersten zeigen, was er von schwäbischer Mundart versteht („ARD-Buffet“, ab 11.05 Uhr). Nach Angaben des Senders ist der Sprachtest als Zeichen der Versöhnung gedacht. Die Frage laute: „Kann ein Berliner Schwäbisch lernen und wenn ja, wie viel?“ Als Antwort wird freilich zu erwarten sein, dass Thierse versagt – und künftig auch keinem Exil-Schwaben mehr Assimilation ans Hochdeutsche oder gar Berlinische abverlangt werden kann.

Was lernen wir daraus? Die deutsche Sozialdemokratie, bisher in der Pflege und Bewahrung landsmannschaftlicher Eigenarten eher ungeübt, wird sich neu besinnen müssen. Ein wenig schwäbische Heimatkunde für Grundschüler in Prenzlauer Berg könnte die Stadt der Vielfalt bereichern. Dialekt- und Brauchtumsunterricht für zugezogene Sachsen, Sorben, Friesen und Franken könnte folgen. Wenn schon Multikulti, dann richtig. Schließlich haben auch muslimische Kinder inzwischen ein Anrecht auf einen schulfreien Tag zum Zuckerfest. Ja, wir können von den Schwaben lernen: Eine Einführung der Kehrwoche wäre in Berlin sicher nicht von Schaden.

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