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Ohne Strom kein Licht. Für viele ist die Situation verheerend.

© Getty Images/iStockphoto

Unbezahlte Rechnungen: 344.000 Haushalten wurde 2018 der Strom abgestellt

Tausenden Berlinern fehlt Strom und Gas. Hilfe finden sie in der Energieschuldenberatung. Aber nicht alle wissen um ihre Rechte.

„Fix und fertig“ war sie, erzählt Helga Wiese. Ohne Strom gibt es kein Licht, kann sie weder kochen noch das Tiefkühlgemüse in der Kühltruhe aufbewahren. Ohne Strom ist sie nicht für den Notfall ausgestattet: Ihr Herzschrittmacher ist mit einem Funkgerät verbunden, das bei Problemen ein Signal an ein Krankenhaus sendet. „Ich hatte Angst“, sagt die 59-jährige Rentnerin. Grund für ihre Angst war ein Schreiben ihres Stromanbieters: Er kündigte an, die Versorgung einzustellen: in drei Tagen.

Frau Wiese ist mit ihrer Angst nicht alleine: Im vergangenen Jahr wurde in Deutschland fast 344.000 Haushalten der Strom abgestellt. Das geht aus dem Monitoring-Bericht der Bundesnetzagentur zum Strommarkt hervor. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg von 14.000 Stromsperren. Grund für die Sperrungen sind unbezahlte Rechnungen. In Berlin wurden laut Bericht insgesamt 15.806 Stromsperren verhängt.

Kein Gas im Winter

Doch nicht nur bei der Elektrizität, auch beim Gas können die Versorger eine Energiesperre verhängen, wenn Kunden ihre Rechnungen nicht bezahlen. 2017 gab es in der Hauptstadt laut einer Auskunft aus dem Bundeswirtschaftsministerium 2483 Lieferunterbrechungen für säumige Kunden der Gasversorger. Für die Verbraucher hat das häufig unangenehme Folgen: 200 der Sperren wurden in den Wintermonaten verhängt.

Viele Betroffene schämen sich. Armut ist weiterhin ein Stigma. Deshalb möchte auch Helga Wiese lieber anonym bleiben, sie heißt in Wirklichkeit anders.

Beratung und Unterstützung können Betroffene bei den Verbraucherzentralen finden. In Berlin gibt es dort seit April dieses Jahres eine gesonderte Stelle: „Unser Ziel ist es, Sperren zu vermeiden“, sagt Hasibe Dündar von der Beratungsambulanz für Energieschuldner. Zu ihr kommen vor allem Bezieher von Arbeitslosengeld II und Geringverdiener. Ein Zahlungsrückstand kann ganz unterschiedliche Gründe haben, angefangen mit zu hohen Ausgaben für Strom oder Gas: Einige der Betroffenen wüssten nicht, dass sie ihren Anbieter frei wählen können.

„Schon mit dem Anschalten des Lichts in einer neu bezogenen Wohnung schließt man mit dem Grundversorger einen Vertrag ab“, erklärt Dündar. Diese Verträge sind oft teuer. Hohe Kosten können auch durch alte technische Geräte mit hohem Stromverbrauch zustande kommen.

Für Menschen mit geringem Einkommen bereiten auch die schwer kalkulierbaren Jahresendabrechnungen Probleme. Die Abschläge, die an den Versorger gezahlt werden, richten sich nach einem geschätzten Verbrauch. Erfolgt keine regelmäßige Ablesung am Stromzähler, können sich über längere Zeit Schulden ansammeln.

„Ich war schockiert“

So war es auch bei Helga Wiese: 26 Euro hatte sie monatlich gezahlt. Sie wohnt mit ihrem Mann in einer Berliner Genossenschaftswohnung mit zwei Zimmern. Sie seien sparsam, sagt sie, heizen nur in einem Zimmer. Die Abschläge sind dennoch zu niedrig angesetzt für den Verbrauch der beiden. Im März bekam sie die Jahresendabrechnung und sollte 300 Euro nachzahlen. „Ich war schockiert“, sagt sie.

Die Ausgaben von Wiese und ihrem Mann sind knapp kalkuliert. Sie hat früher in der Buchhaltung gearbeitet und bekommt eine Erwerbsminderungsrente. Ihr Mann hatte eine Renovierungsfirma und wurde später Fernfahrer. Heute bekommt er Arbeitslosengeld II. „Wir haben monatlich 200 Euro zur Verfügung“, sagt Wiese. „Das ist für Lebensmittel, Kleidung und so etwas.“ Nun sollte sie 300 Euro nachzahlen. Mit dem Stromanbieter vereinbart sie eine Ratenzahlung. Das ist üblich, die meisten Versorger lassen sich darauf ein.

Die erste Rate zahlte Wiese jedoch zu spät. „Mein Mann hat sein Krankengeld später bekommen“, erzählt sie. Da sie die Rate dann noch mit den aktuellen Abschlägen zusammen überweist, akzeptiert ihr Stromanbieter die Zahlung nicht. „Ich habe zweimal pro Monat Schreiben bekommen“, sagt Wiese, „telefonisch ließ sich nichts klären.“

Schließlich kommt die Sperrankündigung. Drei Tage vor der Sperre muss der Anbieter den Kunden informieren. Gas und Strom dürfen abgestellt werden, wenn die Schulden über hundert Euro liegen und der Kunde nicht glaubhaft erklärt, dass er zahlen wird.

„Zum Glück war mein Sohn da, wir sind mit ihm zur Verbraucherzentrale gegangen“

Wiese ist verzweifelt. „Zum Glück war mein Sohn da, wir sind mit ihm zur Verbraucherzentrale gegangen“, erzählt sie. Sie wollen die Sperre verhindern, denn ist sie erst eingebaut, kommen noch mehr Kosten auf die Kunden zu. Die Sperren werden meist von den Grundversorgern durchgeführt.

Für eine Entsperrung müssen Schulden und Entsperrkosten zusammen gezahlt werden. Für Letzteres werden beim Stromgrundversorger Vattenfall 176,90 Euro und bei der Gasag insgesamt 164,21 Euro fällig. Möglicherweise müssen auch Mahnverfahren und ein Inkassobüro bezahlt werden.

„Die Sperren sind oft unverhältnismäßig“, sagt Expertin Dündar von der Verbraucherzentrale. „Menschen, die ohnehin zu wenig Geld für ihren Energieverbrauch hatten und denen die Energieversorgung deswegen unterbrochen wurde, müssen dann noch tiefer in die leere Tasche greifen.“

In der Regel bleiben die von einer Sperre Betroffenen nur wenige Tage ohne Strom oder Gas, weil sie im Ernstfall meist schnell das ausstehende Geld zusammenkratzen, häufig helfen dabei auch Freunde, Verwandte oder soziale Einrichtungen. Es besteht auch die Möglichkeit, einen Antrag auf Kostenübernahme bei Jobcenter und Sozialamt zu stellen. Den Beziehern von Hartz IV würde dann monatlich das Geld bis zu zehn Prozent gekürzt.

Längst nicht alle angedrohten Sperren werden zur Realität. Im vergangenen Jahr gab es gut 4,8 Millionen Ankündigungen an Kunden, nur bei gut sieben Prozent von ihnen wurde der Strom dann abgestellt. Außerdem sind nicht alle Sperrankündigungen rechtens, auch das erlebt die Verbraucherzentrale.

Bisher hat die Beratungsambulanz etwa 200 Betroffene unterstützt, nur bei einem von ihnen wurde die Sperre durchgeführt. „Einige sind sich ihrer Rechte nicht bewusst“, sagt Dündar. Eine Härtefallregelung zum Beispiel schützt Familien mit Kindern und Menschen, die aufgrund einer Krankheit auf Energie angewiesen sind.

Diese Regelung hat auch Helga Wiese geholfen. Wegen ihres Herzschrittmachers war eine Sperre als unverhältnismäßig eingestuft worden. So muss sie diesen Winter nicht im Dunkeln sitzen. Von der Sperrankündigung ist sie aber heute noch aufgewühlt. „Ich wüsste nicht, was ich ohne Hilfe getan hätte“, sagt sie.

Ihrem Stromanbieter hat Wiese jetzt gekündigt, sie wird aber weiterhin ihre Schulden abbezahlen. Für das laufende Jahr hat sie einen neuen Anbieter: mit Abschlägen, die ihren tatsächlichen Verbrauch widerspiegeln.

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Pauline Faust

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