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Siegfried Brockmann findet, dass bei manchen Gerichtsurteilen die Autofahrerperspektive durchscheine.

© Doris Spiekermann-Klaas

Unfallforscher zum LKW-Urteil: „Wir sind weit davon entfernt, die StVO flächendeckend durchzusetzen“

Ein Kind ist tot, der LKW-Fahrer wird aber kaum bestraft. Unfallforscher Brockmann über ein aktuelles Urteil.

Siegfried Brockmann ist gelernter Kfz-Mechaniker und Politologe. Seit 2006 leitet er die Unfallforschung der Versicherer (UdV). Zudem ist er in Verkehrswacht und Verkehrssicherheitsrat aktiv.

Im Interview spricht Brockmann auch über das vielbeachtete Urteil des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten. Dieses hatte am Mittwoch einen LKW-Fahrer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, nachdem dieser 2018 einen Siebenjährigen überfahren hatte.

Wieder einmal empört ein Gerichtsurteil im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall die Öffentlichkeit: Der Lkw-Fahrer, der beim Rechtsabbiegen in Spandau einen Siebenjährigen totgefahren hat, erhielt sechs Monate auf Bewährung und muss 500 Euro zahlen. Seinen Führerschein darf er behalten, obwohl er laut Gericht den Tod des Kindes durch etwas mehr Aufmerksamkeit hätte vermeiden können. Wäre eine Haftstrafe in so einem Fall das angemessenere Signal gewesen?
Die Gesellschaft erwartet von so einem Urteil, dass es der Schuld angemessen ist. Diese Erwartungshaltung ist natürlich eine besondere, wenn durch die Tat ein Kind zu Tode gekommen ist. Dem kann die Justiz kaum gerecht werden. Dabei ist das Urteil gegen den Lkw-Fahrer im Gesamtgefüge der Rechtsprechung durchaus angemessen. Das zeigt sich schon daran, dass es der Forderung der Staatsanwaltschaft entspricht.

Die Botschaft, dass man ins Gefängnis kommen kann, wenn man aus Nachlässigkeit ein Kind tötet, das sich regeltreu verhält, wäre aber auch nicht abwegig.
Es wäre nicht angemessen, einen Ersttäter so zu kriminalisieren, dass ihm danach kein normales Leben mehr möglich ist. Eine andere Frage ist, ob das Urteil eine präventive Wirkung entfaltet. Das schließe ich bei solchen Delikten aus: Der Lkw-Fahrer mag müde gewesen sein und erschreckend unaufmerksam. Aber er hat bestimmt nicht bewusst in Kauf genommen, dass jemand zu Schaden kommt. Die meisten von uns fahren schlechter, als sie glauben. So schlecht, dass im schlimmsten Fall auch jemand zu Tode kommen könnte. Wir wissen es nur nicht, weil es meistens eben gut geht und nicht vor Gericht rekonstruiert wird.

Kürzlich kam ein BMW-Fahrer, der mit maximal Tempo 70 auf einer Busspur am Stau vorbeigerast ist und ein Kind tötete, mit 40 Tagessätzen à 5 Euro und einem Monat Fahrverbot davon. Das Gericht gab der Mutter eine Mitschuld, weil sie ihr Kind nicht festgehalten habe. Ist die Justiz womöglich auf dem „Autofahrer-Auge“ blind?
Ich hüte mich vor Verallgemeinerungen, aber in manchen Urteilen scheint die Autofahrerperspektive schon sehr deutlich durch. Das konkrete Urteil gegen den BMW-Fahrer halte ich für fatal. Die Mutter mit Kind am Straßenrand muss für diesen Autofahrer sichtbar gewesen sein. Damit verschiebt sich die Schuld ganz klar zu ihm. Dass ihn das Gericht derart entlastet und entsprechend mild verurteilt hat, ist für mich schwer erträglich – und ein Schlag ins Gesicht für alle Eltern.

Viele Verkehrsteilnehmer fahren augenscheinlich in der Annahme durch die Stadt, dass sie auch für grobe Regelverstöße kaum bestraft werden. Entwickelt sich der Straßenverkehr mangels Überwachung zum rechtsfreien Raum?
Die Polizei ist angesichts ihrer vielen Aufgaben nicht mehr in der Lage, das Legalitätsprinzip durchzusetzen. Stattdessen ist man zum Opportunitätsprinzip übergegangen. Mit anderen Worten: Wir sind weit davon entfernt, die StVO flächendeckend durchzusetzen. Kontrolliert wird nur, was wenig personalintensiv ist, zum Beispiel Geschwindigkeit, und punktuell besonders problematische Delikte. Das ist in Kombination mit den zu milden Strafen besonders problematisch: Wenn ich nur alle paar Jahre erwischt werde, macht es keinen großen Unterschied, ob ich 30 Euro zahlen muss oder hundert.

In Berlin passieren jährlich rund 150 000 Unfälle mit knapp 20 000 Verletzten und etwa 50 Toten. Wie viele davon wären vermeidbar, wenn sich alle an die grundlegenden Verkehrsregeln halten würden?
Theoretisch fast alle, denn in der StVO stehen zwei Grundprinzipien. Das erste ist ständige gegenseitige Rücksicht und Vorsicht. Laut dem zweiten muss man sein Fahrzeug jederzeit so bewegen, dass man rechtzeitig zum Stehen kommt. Damit könnte man zwar fast jeden Unfall verhindern. Aber bei konsequenter Anwendung hieße das beispielsweise, im Dunkeln bei Regen auf der Autobahn nur noch Tempo 60 zu fahren und in der Stadt auf Tempo 10 abzubremsen, sobald Kinder am Straßenrand sind.

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