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Urteil zur Scheinselbstständigkeit : Die kulturelle Bildung in Berlin steht auf der Kippe
Will Berlin das Angebot an Musik- und Volkshochschulen erhalten, muss es tief in die Tasche greifen. Eine Alternative dazu gibt es nicht. Ein Kommentar.

Stand:
„Die Volkshochschulen haben die Grundversorgung der Erwachsenenbildung im Land Berlin zu sichern. Sie haben die Aufgabe, im Sinne eines lebenslangen Lernens ein Angebot zu unterbreiten, das Möglichkeiten eröffnet, Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu erhalten, zu ergänzen, zu vertiefen und neu zu erwerben […].“ Was im 2021 beschlossenen Erwachsenenbildungsgesetz klar formuliert ist, erfährt in der Realität aktuell einen echten Schock.
In Folge eines Urteils des Bundessozialgerichts werden in mehreren Bezirken keine neuen Verträge mit meist auf Honorarbasis beschäftigten Dozentinnen und Dozenten ausgestellt – im Übrigen auch an Musik- und Jugendkunstschulen. Es droht ein inhaltlich deutlich ausgedünntes Kursangebot für das im Herbst beginnende Semester. Seiner gesetzlichen Verpflichtung, erwachsenen Menschen eine Grundversorgung an Bildung zur Verfügung zu stellen, wird das Land Berlin so nicht gerecht. Auch viele Kinder und Jugendliche sind betroffen, Experten zufolge steht die kulturelle Bildung insgesamt auf der Kippe.
Die Folgen sind schon jetzt spürbar: In Treptow-Köpenick etwa wurde das für Mitte Juni geplante Musikschulfest abgesagt, weil Einzelaufträge für Honorarlehrkräfte nicht länger erteilt werden. An Musikschulen mehrerer Bezirke werden keine neuen Schülerverträge mehr unterzeichnet – selbst wenn die vielfach begehrten Plätze frei werden. Die Schulen schaffen sich faktisch selbst ab.
Und der Berliner Senat? Realisiert offenbar erst nach und nach, wie groß die Sprengkraft des Urteils der Richter aus Kassel ist. Nachdem Rot-Grün-Rot die damals noch weitestgehend unbekannte Entscheidung ignoriert hatte, spielt Schwarz-Rot auf Zeit. Einer ersten ergebnislosen Senatsbefassung im August 2023 folgte eine weitere im März dieses Jahres – ebenfalls ohne klare Aussage oder gar Lösung.
Erst nachdem die Bezirke aufbegehrt hatten, schlugen Bildungs- und Kulturverwaltung Anfang Mai vor, ein Moratorium mit der Deutschen Rentenversicherung zu verhandeln. Erste Gespräche auf Spitzenebene sollen noch vor der Sommerpause geführt werden. Bis zu einer Einigung jedoch dürften Wochen oder gar Monate vergehen. Zumal 15 andere Länder sehr genau darauf schauen werden, wie kompromiss- und damit verzichtsbereit sich die Rentenversicherung zeigt. Berlin befindet sich was die Prekarisierung von Honorar-Dozenten und -Dozentinnen angeht in schlechter Gesellschaft.
Klar ist: Auch ein Moratorium ist keine Lösung. Was es braucht, ist eine Art Revolution der Beschäftigungsverhältnisse im Bereich des außerschulischen Lernens. Nur wenn Berlin und alle anderen Bundesländer hauptberufliche Dozenten an sogenannten Freizeitschulen fest anstellt, lassen sich Scheinselbstständigkeit und drohende Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen entgehen.
Das ist – zumal in der derzeitigen und erst recht in der absehbaren Haushaltslage – ein herausforderndes Unterfangen. Die Alternative wiederum lautet Verzicht auf Bildung. Sie ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch inakzeptabel.
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