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Die Augen verbinden würden sich auch manche Richter gern angesichts der Aktenberge.

© dpa / Fabian Sommer

Verdächtig und frei: Kammergericht kritisiert den Senat ungewohnt heftig

Christian M. wird massiver Kindesmissbrauch vorgeworfen. Er wurde trotzdem freigelassen. Das Kammergericht schreibt an den Senat: Erklär das den Bürgern.

Von Fatina Keilani

Mit ungewohnt kritischen Worten hat das Kammergericht seinen Beschluss begründet, den mutmaßlichen Kinderschänder Christian M. vorerst auf freien Fuß zu setzen. „Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen“, heißt es auf Seite 19 des Beschlusses, der dem Tagesspiegel vorliegt.

Noch ungewöhnlicher wird es auf Seite 27. Im letzten Absatz des Beschlusses greift der vierte Senat des Gerichts den Berliner Senat an: „Versäumt es der Staat, (…) seine Strafverfolgungsbehörden und Gerichte so auszustatten, dass diese dem Gesetzesbefehl folgen und in Verfahren, in denen Untersuchungshaft vollzogen wird, regelmäßig (…) innerhalb von sechs Monaten nach Festnahme des Beschuldigten mit der (…) Hauptverhandlung beginnen können, muss er es hinnehmen - und seinen Bürgerinnen und Bürgern erklären - dass einer Straftat dringend Verdächtige trotz Vorliegens eines Haftgrundes auf freien Fuß kommen, sich dem Verfahren (und einer Bestrafung) entziehen, die Rechtsfindung durch Verdunkelungshandlungen erschweren oder erneut Straftaten von erheblichem Gewicht begehen.“

Die zuständige Kammer war nämlich überlastet und nicht in der Lage, schnell genug zu verhandeln. Deshalb hob das Kammergericht den Haftbefehl auf.

Seit Jahren kommen Verdächtige frei, weil das Landgericht überlastet ist

Nach Recherchen der Deutschen Richterzeitung mussten allein im vergangenen Jahr dreizehn Verdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil das Beschleunigungsgebot verletzt wurde. Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, sagte dazu: „Der aktuelle Fall ist nicht der erste Weckruf für die Landespolitik. Die Strafgerichte und Staatsanwaltschaften in Berlin arbeiten seit Jahren am Anschlag. Die Landesregierung muss mehr tun, um die Probleme in der Justiz nachhaltig zu beheben.“

Zwar gäbe es jetzt mehr Stellen, doch reiche das nicht, die bevorstehenden pensionierungsbedingten Abgänge auszugleichen. Ein Sprecher von Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) teilte mit, es seien alleine seit Jahresbeginn 2018 am Landgericht sechs große Strafkammern, fünf kleine Strafkammern und sechs Strafvollstreckungskammern eröffnet worden.

Von Richtern ist jedoch zu hören, dies habe keine Aussagekraft, da viele Kammern keine Vorsitzenden hätten und es Konkurrentenklagen gebe. Die Gerichte sind seit mindestens 2015 total überlastet. Wenn eine Kammer ihre Überlastung anzeigt, werden die Haftsachen auf andere Kammern verteilt - bis auch diese überlastet sind. Seit Jahren dauert dieser Zustand an.

Die Sache ging gut voran - bis sie bei Gericht ankam

Bis die Sache zum Gericht kam, ging alles schnell. Am 28. August erstattete die Kinderschutzbeauftragte der Stadtmission spätnachmittags Anzeige, am nächsten Morgen wurden die Kinder und ihre Mutter vernommen und der Arbeitsplatz des mutmaßlichen Täters ermittelt, ausgerechnet eine Kita.

Mittags erging ein Durchsuchungsbeschluss, nachmittags wurde der Mann festgenommen und am nächsten Tag erging Haftbefehl. Dieser stützte sich zunächst nur auf fünf Vorwürfe. Bei der Durchsuchung wurden mehrere Handys, drei Kameras, mehrere Computer und Speichermedien sowie Unterlagen und Bilder sichergestellt.

Einen Tag später, am 31. August, begann die Auswertung der sichergestellten Unterlagen und Datenträger. Sie dauerte bis 5. Oktober 2018. Es wurden 25.453 vorhandene kinderpornographische Bilddateien gefunden sowie 8060 weitere, die gelöscht worden waren, außerdem 855 vorhandene Kinderporno-Videos und 232 weitere gelöschte, sowie Bilder schlafender Kita-Kinder. Die Polizei gliederte das Material und ordnete es 32 Tatkomplexen zu. Die Mutter der missbrauchten Geschwister erkannte bei einer Vernehmung am 1. Oktober auf dem Material ihre eigene Wohnung und die von Christian M. als Tatorte.

Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung, die Unschuldsvermutung gilt

Ende Oktober erhob die Staatsanwaltschaft Anklage und beantragte eine Neufassung des Haftbefehls, da nun viel mehr Taten angenommen wurden. Nun lag die Sache bei der 13. großen Strafkammer des Landgerichts – Jugendkammer –, und ab jetzt verlangsamte sich alles. Die Staatsanwaltschaft fragte am 7. Dezember nach dem Sachstand und erhielt keine Antwort.

Ende Januar erbat sie Rücksendung der Akten „nach Erlass des beantragten neuen Haftbefehls“. Die Anklage wurde zugelassen, Termin für den 20. März anberaumt, und das Gericht entsprach nun der Bitte und erließ am 1. Februar einen neuen Haftbefehl; diesen legte es dem Kammergericht zur Prüfung vor. Nach der Strafprozessordnung ist eine Haftfortdauer über die Grenze von sechs Monaten hinaus nur zulässig, wenn der Fall entweder sehr schwierig oder sehr umfangreich ist oder es dafür einen wichtigen Grund gibt, der ein Urteil noch nicht zulässt.

Der Fall von Christian M. ist allerdings relativ überschaubar in seiner Dimension und rechtlich auch nicht schwierig, so dass als „wichtiger Grund“ allenfalls die Überlastung der Kammer in Betracht kommt. Das reicht nicht, um einen Verdächtigen festzuhalten, und so hob das Kammergericht den Haftbefehl auf. Der Prozessauftakt am 20. März war nach wenigen Minuten vorbei, da sich eine Schöffin für befangen erklärte. Nun soll am 2. April die Hauptverhandlung beginnen.

Lesen Sie hier auch unseren Bericht vom April 2018, der immer noch stimmt.

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