zum Hauptinhalt

Berlin: "Verwaiste Eltern": Wenn das Kind vor den Eltern stirbt

Der Tod kommt schleichend. Plötzlich kann der kleine Jan nicht mehr richtig sprechen, dann zieht er den Fuß nach, Speichel läuft ihm aus dem Mund.

Der Tod kommt schleichend. Plötzlich kann der kleine Jan nicht mehr richtig sprechen, dann zieht er den Fuß nach, Speichel läuft ihm aus dem Mund. Heike und Frank Bucher bekommen es mit der Angst zu tun und bringen den Sohn ins Krankenhaus, ein unheilbarer Hirntumor wird diagnostiziert. Die unfassbare Nachricht: Jan muss sterben. Fünf Wochen vergehen noch bis zu seinem Tod, fünf Wochen, in denen die Buchers ihren knapp vierjährigen Sohn körperlich verfallen sehen und Abschied nehmen müssen. Die schlimmste Zeit ihres Lebens hat gerade begonnen.

Jan ist eines von 275 Kindern unter 20 Jahren, die 1999 in Berlin starben. Krankheiten und Unfälle waren die häufigsten Todesursachen, allein 23 Kinder kamen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Für die betroffenen Eltern gab es in Berlin bis vor kurzem kaum geeignete Anlaufstellen, die ihnen bei der Bewältigung ihres Schmerzes zur Seite standen. "Viele kirchliche Trauergruppen sind nicht speziell für Eltern zuständig, sondern generell für Angehörige von Gestorbenen", sagt Thekla Köhler, die sich nach dem tödlichen Unfall ihres 18-jährigen Sohnes vor dreieinhalb Jahren auf die Suche nach einer Gruppe machte.

Ähnlich wie die Eltern des kleinen Jan fand sie Hilfe bei der Kontakt- und Informationsstelle "Verwaiste Eltern in Deutschland". Dort erfuhr sie von den Trauerseminaren der Hamburger Regionalstelle, die regelmäßig in Bad Segeberg stattfinden. Da es bislang in Berlin nichts Vergleichbares gibt, fahren viele betroffene Eltern die rund 250 Kilometer, um in der Gemeinschaft ihre Gedanken auszutauschen und Verständnis für ihre Situation zu finden.

Doch auch in Berlin tut sich etwas: Vor einem Jahr haben Jans Eltern, Thekla Köhler und sieben weitere Mütter und Väter eine Regionalstelle der Verwaisten Eltern gegründet. Seit diesem Monat bieten sie eine offene Gruppe, zu der an jedem ersten Freitag im Monat betroffene Eltern zum unverbindlichen Gespräch kommen können. Zweimal in der Woche gibt es außerdem eine Telefonsprechstunde. Welche Möglichkeiten bieten Bestattungsunternehmen bei der Beerdigung eines Kindes, oder welche Fehler gilt es zu vermeiden, wenn man Abschied nehmen muss, sind unter anderem Themen in dieser Sprechstunde. "Viele Eltern wollen ihr totes Kind nicht noch einmal ansehen, bevor es beerdigt wird und leiden dann jahrelang darunter, dass sie es nicht getan haben", sagt Frank Bucher.

Fast alle Eltern kommen ein Leben lang nicht über den Verlust ihres Kindes hinweg. "Die Trauer hört nie auf, aber der Schmerz ändert sich", erzählt Heike Bucher. Besonders um Jans Geburts- oder Todestag türmt sich der Schmerz zu einer großen Welle auf. "In den Phasen, in denen es mir schlecht geht, habe ich Probleme damit, für andere Eltern Ansprechpartner zu sein." Dennoch ringt sie sich immer wieder durch. "Die Zusammenkunft ist immer auch Trauerbewältigung", sagt die 34-Jährige. Das möchte sie auch anderen Eltern bieten.

Auch ältere Menschen, die beispielsweise ihren 40-jährigen Sohn verloren haben, melden sich bei den Verwaisten Eltern. Und neulich rief eine Frau an, deren Sohn vor 20 Jahren ums Leben kam und die das Gespräch darüber suchte. "Viele denken, so nach einem Jahr muss man über die Trauer hinweg sein, aber das stimmt natürlich nicht", sagt Thekla Köhler. Auf dem Kaminsims ihres Wohnzimmers steht ein Foto von ihrem Sohn, davor ein kleines Surfbrett, weil das Surfen seine große Leidenschaft war. Die Kerze daneben brennt oft. "Manche Eltern schauen keine Fotos mehr an und können nicht mal den Namen ihres Kindes aussprechen." Aber Verdrängung, sagt Köhler, mache alles nur noch schlimmer. Deshalb ist auch für sie der Austausch in der Gruppe wichtig.

Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann: "Er hat sich noch mehr in seine Arbeit gestürzt", sagt die 50-Jährige, die nach Philipps Tod eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin absolviert hat. Männer, so die Erfahrung vieler Frauen, ziehen sich eher zurück und meiden Gesellschaft, wenn sie trauern. Kein Wunder also, dass auch bei den Verwaisten Eltern vor allem Mütter aktiv sind.

Auch um die Geschwister der toten Kinder sorgen sich die Verwaisten Eltern. Für sie gibt es spezielle Seminare in Bad Segeberg. "Geschwister haben Schuldgefühle und fragen sich: Warum gerade er und nicht ich?", sagt Thekla Köhler. Ihre Tochter Konstanze lebt derzeit in Portugal, und die Mutter hat oft Angst, dass auch ihr etwas zustoßen könnte. "Der Gedanke, dass einem so etwas nur einmal passiert, ist falsch." Mittlerweile kennt die Trauerbegleiterin auch Eltern, die im Laufe ihres Lebens zwei Kinder beerdigen mussten.

Boulevard Berlin: Was die Stadt bewegt...

Monika Herrfurth hat ihren Sohn durch Suizid verloren. Mitten im Abitur litt der 20-Jährige plötzlich unter den Symptomen einer Jugendschizophrenie. Der Schock saß tief, als plötzlich die Nachricht vom Tod ihres Sohnes kam. Ihre Familie und Freunde zogen sich zurück. Nach einem Jahr empfahl ihr eine Verwandte, es doch mal mit Seidenmalerei zu versuchen, anstatt sich immer nur mit dem toten Sohn zu beschäftigen. Solche Sprüche wirken wie Dolche ins Herz der Angehörigenund zeigen die Unfähigkeit der Umgebung, Trauer und Schmerz zu begegnen. Viele Freundschaften zerbrechen an der mangelnden Sensibilität gegenüber Trauernden. Deshalb haben die Verwaisten Eltern mittlerweile Merkblätter in Umlauf gebracht, die an ein bewussteres Verhalten gegenüber Trauernden appellieren.

Auch die 49-jährige Monika Herrfurth fand Hilfe bei den Verwaisten Eltern. Dort trifft sie sich jetzt regelmässig mit Eltern von Suizid-Kindern. Als sich vor drei Wochen eine Mutter, deren Sohn sich vom Hochhaus gestürzt hatte, ebenfalls umbrachte, war sie bestürzt - aber gewundert hat sie sich nicht: "Wer das macht, will nicht sterben, sondern Ruhe finden."

Christine Berger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false