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Eine Frau geht auf an dem Mahnmal für die Opfer des Attentats vom 19. Dezember 2016 vorbei.

© Christoph Söder/dpa

Vierter Jahrestag des Anschlags vom Breitscheidplatz: „Ich bin froh, wenn ich das einfach mal vergessen kann“

Am Sonnabend wird der Opfer des Anschlags in Berlin von 2016 gedacht. Doch viele der damals Anwesenden wollen das im Stillen tun – ohne große Publicity.

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Ein stilles Gedenken soll es sein, eine kleine Andacht. Wenn sich am Sonnabend um 20.02 Uhr der islamistische Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz zum vierten Mal jährt, werden die Glocken zwölf Mal schlagen. Den Gottesdienst, der vor der Gedächtniskirche stattfindet, kann man im Internet verfolgen. Vor Ort soll die Teilnahme interessierten Bürgern, vor allem aber den überlebenden Opfern des Anschlags und den Angehörigen der Getöteten, ermöglicht werden.

Doch von diesen werden in diesem Jahr wohl nicht allzu viele kommen, vermutet der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber: „Zum einen können Nicht-Berliner wegen des Corona-Lockdowns gar nicht in die Hauptstadt reisen, zum anderen ist es für manche Betroffene offenbar heilsamer, nicht immer wieder mit dem Geschehen konfrontiert zu werden.“

So hätten ihm beispielsweise die Angehörigen einer beim Anschlag verletzten jungen Frau gesagt, dass diese sich nicht alle zwölf Monate aufs Neue damit auseinandersetzen, sondern lieber nach vorne schauen wolle. Das ist auch die Stimmung bei vielen Schaustellern, die ihre Stände sonst auf dem Weihnachtsmarkt rund um die Gedächtniskirche aufgebaut haben.

Weil dieser wegen Corona ausfiel, standen in diesem Jahr nur zehn von sonst rund 200 Buden auf dem Breitscheidplatz; weit voneinander platziert, mit schwingenden Plexiglasscheiben, Hygienespendern und aufgemalten Trennungs-Linien für Besucher, die im Stehen verstohlen eine Bratwurst oder eine Portion Grünkohl verzehrten.

Seit Beginn des zweiten Lockdowns, am 16. Dezember, mussten auch die verbliebenen Betreiber ihre Buden schließen.
Seit Beginn des zweiten Lockdowns, am 16. Dezember, mussten auch die verbliebenen Betreiber ihre Buden schließen.

© Christoph Söder/dpa

Kaum einer der Schausteller wollte sich zu den Ereignissen am 19. Dezember 2016 äußern, als der islamistische Terrorist Anis Amri mit seinem Sattelzug zwölf Menschen tötete und viele weitere schwer verletzte.

Die Händler schüttelten nur die Köpfe: „Ich bin froh, wenn ich das einfach mal vergessen kann“, sagte ein Mann. Eine Frau winkte nur stumm ab, eine andere erzählte zumindest, dass sie immer gedacht habe, so etwas würde hier nicht passieren – in Paris, vielleicht, aber nicht in Berlin auf dem Breitscheidplatz. „Wie konnte ich so doof sein?”, fragte sie – und fügte hinzu: „So etwas vergisst man nicht. Aus Geschäftspleiten kann man sich rausarbeiten. Daraus nicht.”

Michael Roden, Vorsitzender vom Schaustellerverband Berlin, erklärt das Verhalten der Händler: „Diese Flut von Interviews – alle sind es satt. Der eine oder andere würde den 19. Dezember sicherlich am liebsten ganz aus seinem Kopf streichen.” Dennoch würde jedes Jahr die Gedenkfeier von den Schaustellern mit organisiert“, sagt er. Das sei für alle in Ordnung. Doch das Bedürfnis, über die Geschehnisse zu sprechen, sei bei vielen gestillt.

Psychologin Heuser-Collier: „Das muss so sein“

Auch einige Opfer, über die der Tagesspiegel berichtet hatte, möchten in diesem Jahr lieber keine Berichte über sich in der Zeitung lesen. Irgendwann sei alles, was gesagt werden musste, gesagt, meint ein Mann, der beim Anschlag verletzt wurde. Irgendwann wolle man das alles nur noch für sich allein verarbeiten.

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Isabella Heuser-Collier, die Leiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Benjamin Franklin der Charité, findet das ganz normal. Es sei durchaus verständlich, dass Menschen die Beschäftigung mit extrem belastenden Erlebnissen oder Erinnerungen für sich abschließen wollen, sagt sie: „Das muss so sein, sonst wären wir ja ständig in einem Gedenk- und Trauermodus, würden ständig retraumatisiert, was uns von anderen Lebens-Aufgaben, die zu meistern sind, abhalten würde.“

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Das trifft gerade in diesem Jahr auch ganz besonders auf die Händler zu, sagt Heuser-Collier. Die befänden sich ja durch Corona gerade in einer Situation, die zwar auf ganz andere Weise, aber eben auch existenziell bedrohlich sei. Am Mittwoch mussten auch die verbliebenen Schausteller ihre Buden auf dem Breitscheidplatz für dieses Jahr schließen.

Trotzdem – darin sind sich die Psychologin, der Opferbeauftragte und die Vertreter von Politik und Verbänden einig – sei es richtig, des feigen Anschlags und der tragischen Schicksale, die viele Menschen durch ihn erlitten haben, am Sonnabend zu gedenken. Denn es gibt etwas, das für Opfer, Angehörige und Helfer genauso wichtig ist wie die Chance auf individuelle Verarbeitung des Erlebten: die Gewissheit, dass sie nicht vergessen sind.

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