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Der morgendliche Berufsverkehr auf dem Berliner Kaiserdamm.

© picture alliance/dpa/Michale Kappeler

Volksbegehren mit erstem Erfolg: Berlins Klimastau endlich auflösen

Die Hauptstadt soll 2030 klimaneutral sein, ein Bündnis hat dafür mehr als 20.000 Unterschriften gesammelt. Der Zeitpunkt passt genau. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ruth Ciesinger

Das Ziel ist sehr ambitioniert, und das ist gut so. In neun Jahren soll Berlin schaffen, wofür sich Deutschland Zeit bis 2045 gegeben hat. Die Hauptstadt soll klimaneutral werden, also möglichst keine klimaschädigenden Treibhausgase mehr in die Luft blasen. Oder anders ausgedrückt von rund 17 Millionen Tonnen CO2 im Jahr (Stand 2019) auf Null.

Mehr als 20.000 Berlinerinnen und Berliner finden das richtig und haben dafür beim Volksbegehren „Berlin Klimaneutral 2030“ unterschrieben. Die erste Stufe ist damit genommen, die Listen übergibt das Bündnis „Klimaneustart“ an diesem Mittwoch dem Senat.

Konkret bedeutet „Klimaneutral bis 2030“ vor allem: eine massive Veränderung. Überall, in der ganzen Stadt, für alle. Solaranlagen müssten dafür dann bereits auf allen geeigneten Dächern und Flächen prangen, alle Gebäude – nicht nur öffentliche – wären entsprechend wärmesaniert, und auf den Straßen führen statt Autos mit Verbrennermotor sehr viel mehr Räder und E-Busse. Und das sind nur ein paar der vielen Beispiele.

Spätestens jetzt räuspert sich eine sorgenvolle Stimme: Ob vor das „ambitionierte“ Ziel vielleicht doch ein dickes „über“ gehört? Zugegeben, es braucht Phantasie, sich vorzustellen, wie innerhalb von neun Jahren flächendeckend Parkplätze umgewidmet oder Fußgängerzonen und Radschnellwege geschaffen werden in einer Stadt, die trotz grüner Verkehrssenatorin und des ersten deutschen Mobilitätsgesetzes bei der Verkehrswende buchstäblich im Stau steht.

Oder wo ein Anwohnerparkausweis 20,40 Euro für zwei Jahre kostet, was vergleichsweise gar nichts ist: In Stockholm etwa sind es mehr als 800 Euro. Für ein Jahr.

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Auch dass die künftige Regierende SPD-Bürgermeisterin Franziska Giffey die A100 weiterbauen möchte und mit CDU und FDP zwei ihrer potenziellen Koalitionspartner voll auf freie Fahrt für freie Bürger setzen, lässt am innovativen Gestaltungswillen mancher Verantwortlicher zweifeln.

Da sind die enormen Kosten, die zum Beispiel die notwendige Gebäudesanierung mit sich bringen wird, und die enorm hohe Zahl von qualifizierten Planenden, die so ein Stadtumbau braucht, und die Berlins Verwaltung bisher nicht hat, noch gar nicht mitbedacht.

Gerade richtig: ein Stachel im Fleisch der Klima-Gemütlichen

Gerade deshalb aber kommt „Berlin Klimaneutral“ mit seiner nachdrücklichen Forderung an die Politik jetzt genau richtig. Quasi als Stachel im Fleisch der Klima-Gemütlichen. Denn das Volksbegehren ist kein Traumgespinst entrückter Bäume-Umarmer. Die Initiative hat schlicht das Ziel des Berliner Klimaschutzgesetzes – Klimaneutralität bis 2045 – um 15 Jahre vorgezogen und schlägt einen möglichen Weg dorthin vor. Die Grünen übrigens streben Klimaneutralität nur fünf Jahre später an. Eine komplexe Stadt-Weiterentwicklung steht den Berlinerinnen und Berlinern also in jedem Fall bevor, außer der Senat möchte gegen sein eigenes Klimagesetz verstoßen.

Zu viele Hürden? Ein Gutachten kommt für den Senat kommt zu dem Schluss, Berlin könne Klimaneutralität erst 2040 erreichen (T+).

Das Bündnis macht jetzt deutlich: Berlin hat keine Zeit mehr, zu warten. Und in der Tat, so sieht es auch die Wissenschaft, müsste die Stadtgesellschaft, wenn sie ihren Anteil an der Erfüllung des Pariser Klimaabkommens und im Kampf gegen die Klimakrise ernst nimmt, die Treibhausgasemissionen bereits in den kommenden zehn Jahren sehr deutlich reduzieren.

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Um diese Herausforderungen mit Chance auf Erfolg anzugehen, müssen jetzt Entscheidungen getroffen und Strukturen aufgebaut werden – statt bloß auf Jahreszahlen möglichst fern der eigenen Verantwortungszeit zu verweisen. Das gilt für Landes- wie für Bezirksebene – und für die Bundespolitik. Denn für das Erreichen seiner Klimaziele braucht Berlin auch eine rasche Energiewende, entsprechende Förderprogramme und Maßnahmen für einen sozialen Ausgleich.

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Auf EU-Ebene setzt man inzwischen bewusst auf das Potenzial von Städten als Treiber beim Klimaschutz. Bald läuft das Förderprogramm „100 klimaneutrale Städte bis 2030“ an, bewerben kann man sich ab November. Und es geht noch ambitionierter, in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen heißt das Ziel „Klimaneutralität bis 2025“.

Das wird Berlin eher nicht schaffen. Aber nachdem der Marathon-Wahl-Sonntag gerade noch einmal vorgeführt hat, wo es überall hakt und rumpelt, wünschen sich viele Menschen noch mehr als sonst einen Neuanfang für die Stadt. Diese Jahrhundertaufgabe, Berlin zukunftsfest zu machen, so dass es trotz fortschreitender Klimakrise eine lebenswerte, offene Stadt für alle ihre Bewohnerinnen und Bewohner bleibt, kann Grundlage dafür sein. Und dafür ist wirklich kein Ziel zu groß.

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