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Berlin: Vom Großbetrieb enttäuscht

Viele Tumorpatienten fühlen sich in Kliniken allein gelassen – und wechseln zum ambulanten Spezialisten

Alles in Rot. Es sind die kleinen Dinge, die Paula Rießling (Name geändert) zu schätzen gelernt hat. Passend zur roten Bommelmütze trägt die 40-jährige Frau aus Schöneberg eine rote Jacke und einen roten Rucksack. „Ich will es mir schön machen“, sagt sie. Denn schön hatte es die Mutter von zwei Kindern in den letzten Jahren nur selten. „Sie haben noch zwei Jahre“, sagte man ihr im Krankenhaus. Fortgeschrittenes Mammakarzinom lautete die Diagnose – Brustkrebs. Das war im Frühjahr 2004.

Bei Frauen zwischen 30 und 60 Jahren ist Brustkrebs die häufigste Todesursache, in Deutschland sterben daran jährlich rund 19 000 Frauen. Im Sommer 2004 startet Rießling eine Chemotherapie, dadurch soll eine Operation vorbereitet werden. Doch der Tumor lässt sich nicht entfernen. Die Chirurgen entnehmen einen mit Krebs befallenen Lymphknoten unter der Achsel und können den Tumor so immerhin begrenzen.

Doch die Erleichterung hält nicht lange: Der Krebs wächst nach, im Körper von Paula Rießling bilden sich Tochtergeschwulste, sogenannte Metastasen. „Ich arbeite daran, die Hoffung nicht zu verlieren. Was soll ich auch sonst machen“, sagt sie leise. Das eben noch sichtbare Lächeln verschwindet, Paula Rießling kann die Tränen nicht mehr zurückhalten: „Ohne Hoffnung könnte ich mich ja gleich beerdigen.“

Noch 2004 wird Rießling ein zweites Mal operiert, wieder erfolglos. Die zierliche Frau unterzieht sich mehreren Chemotherapien, eine Odyssee durch vier Berliner Kliniken folgt. „Krankenhäuser sind wie Behörden“, erzählt Rießling. „Der Patient ist eine Nummer, die Ärzte sind wegen der Überstunden häufig überarbeitet.“ Oft habe sie sich allein gefühlt.

Auch der niedergelassene Krebsspezialist Andreas Kirsch arbeitet – wie die Kollegen im Krankenhaus – mehr als 50 Stunden in der Woche, fast 40 Patienten kommen täglich zu ihm. Dennoch habe er sich Zeit für sie genommen, sagt Rießling erleichtert. Zusammen mit drei Kollegen betreibt Kirsch eine onkologische Schwerpunktpraxis in der Zehlendorfer Clayallee. „Ich musste ihm nicht erklären, wie es mir geht“, sagt sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

Immer mehr Krebspatienten vermeiden den Weg ins Krankenhaus. Wer keine Operation benötigt, sucht häufig lieber einen niedergelassenen Arzt auf. Zu der hohen Nachfrage nach ambulanter Versorgung habe die „Nähe zum Patienten“ beigetragen, sagen Mediziner. Studien hätten bewiesen, dass Tumorpatienten, die kontinuierlich vom selben Arzt behandelt werden, länger lebten. In einer Praxis könne man mit mehr Verständnis rechnen, sagt Rießling.

Wegen der besseren Fürsorge habe sie auch die vorerst letzte schlechte Nachricht ertragen können: Vor kurzem hat Rießling von Kirsch erfahren, dass die Metastasen trotz einjähriger Chemotherapie nun in ihrem ganzen Körper wachsen. „Ich gelte als austherapiert“, sagt sie scheinbar beiläufig. „Austherapiert“ heißt: keine Hoffnung auf Heilung oder anhaltende Besserung mehr. Aufgegeben hat sich Paula Rießling jedoch nicht, und das verschafft ihr Zeit. Durch ihren Mut habe seine Patientin ihr Leben verlängert, offenbar schon seit Jahren, ist Kirsch überzeugt. Gerade Krebskranke könnten dem körperlichen Verfall für eine Weile etwas durch eine positive Einstellung entgegen setzen. „Man darf die Menschen nicht alleine lassen.“

Doch gerade das sei in vielen Krankenhäusern der Fall, heißt es aus Selbsthilfegruppen betroffener Patienten. In der Clayallee habe man ihre persönlichen Wünsche berücksichtigt, sagt Rießling. „Ich konnte endlich alle meine Fragen ganz in Ruhe stellen.“ Regelmäßig bittet Andreas Kirsch Kollegen um Rat. Mit fertigen Diagnosen – wie sie aus Zeit- und Kostengründen vielerorts erforderlich sind – ist er vorsichtig.

Paula Rießling versucht, heute all das zu tun, was Gesunde auch machen: kochen, verreisen, mit ihren Kindern spielen. Nur immerfort kämpfen wolle sie nicht mehr, das koste zu viel Kraft. „Die braucht mein Körper noch.“

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