zum Hauptinhalt
Auch eine Form des Autofahrergrußes: der ausgestreckte Mittelfinger.

© Jens Büttner/dpa

„Ich muss mich sofort abreagieren“: Warum Aggressionen im Verkehr so deutlich gestiegen sind

Eine rote Ampel ist für viele eher unverbindlich, ein Tritt auf die Bremse gegen Drängler okay. Zugleich sinkt das Sicherheitsempfinden, zeigt eine neue Studie.

Verkehrsrowdys sind immer die anderen, und die subjektive Sicherheit auf den Straßen hat mit der objektiven Gefahrenlage relativ wenig zu tun. Diese Kernaussagen ergeben sich aus der Studie „Verkehrsklima 2020“, die die Unfallforschung der Versicherer (UDV) am Donnerstag vorgestellt hat.

Bundesweit 2080 Erwachsene wurden dafür Ende 2019 befragt – rund drei Viertel von ihnen online, was den Vorteil hatte, dass sie für eine weitere Befragung zu den Auswirkungen der Coronakrise aufs Verkehrsgeschehen kontaktiert werden konnten. Die Änderungen waren allerdings nicht gravierend.

Für Berlin ist das Thema besonders bedeutsam, denn im Stadtverkehr ist der Anteil der ungeschützten Verkehrsteilnehmer besonders groß, und die Unfallzahlen in der Hauptstadt steigen seit Jahren.

Das allgemeine Sicherheitsempfinden der Verkehrsteilnehmer hat sich gegenüber der letzten Befragung 2016 deutlich verschlechtert: Der Anteil derer, die sich sehr sicher fühlen, sank fast um die Hälfte von 23 auf 16 Prozent. Eher sicher fühlen sich unverändert 39 Prozent, wenig bis gar nicht sicher 45 Prozent.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Vor allem Jüngere bis 55 Jahre empfinden die Verkehrssicherheit jetzt als deutlich schlechter, während die Zahlen bei den Älteren fast konstant blieben. Und wie in den Vorgängerstudien sehen Frauen die Lage deutlich kritischer als Männer.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Gruppe, die sich am sichersten fühlt, sind ausgerechnet die Fahrer von Pedelecs, also elektrisch unterstützten Fahrrädern. Alle anderen Gruppen liegen deutlich dahinter. „Mit den objektiven Gegebenheiten haben die Ergebnisse wenig zu tun“, lautet das Fazit von Siegfried Brockmann, der die in Berlin-Mitte ansässige Unfallforschung der Versicherungswirtschaft leitet.

Siegfried Brockmann leitet die Unfallforschung der Versicherer (UDV) mit Sitz in Berlin.
Siegfried Brockmann leitet die Unfallforschung der Versicherer (UDV) mit Sitz in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Bei den für sinnvoll erachteten Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit liegt eine Null-Promille-Grenze für alle Kraftfahrer klar vorn, gefolgt von Sehtests alle 15 Jahre. Für eine – zunächst sanktionslose – „Rückmeldefahrt“ ab 75 Jahre sprechen sich zwar insgesamt 62 Prozent der Befragten aus, aber die Zustimmung sinkt mit dem Alter rapide. Bei Tempo 130 als Limit auf Autobahnen verläuft die Alterskurve umgekehrt, erreicht aber schon bei den Über-55-Jährigen ihren Höhepunkt. Insgesamt ergibt sich eine Mehrheit von 53 Prozent fürs Tempolimit auf Autobahnen. Die Zustimmung für Tempo 80 auf Landstraßen und Tempo 30 innerorts ist jeweils geringer.

Rote Ampel? Nur für einen Teil der Autofahrer absolut verbindlich

Bemerkenswert ist die unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft zu Regelverstößen: Während 93 Prozent der Autofahrer es für sehr unwahrscheinlich halten, dass sie sich auch alkoholisiert ans Steuer setzen würden, versichern nur 42 Prozent, dass sie ganz bestimmt nicht über eine rote Ampel und 71 Prozent, dass sie gewiss nicht zu schnell fahren würden – obwohl das Gefahrenpotenzial der großen Mehrheit bewusst ist. Die Befragen gehen sogar eher davon aus, bei Rotlichtverstößen oder Raserei erwischt zu werden als alkoholisiert am Steuer.

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]

„Unser schärfstes Schwert ist die soziale Akzeptanz“, schließt Brockmann daraus. „Beim Thema Alkohol sehen wir, dass das gesellschaftlich nicht toleriert ist.“ Für die anderen Verstöße bedeute das ein Problem, „solange wir jemanden als Schleicher bezeichnen, der in einer 30er-Zone exakt 30 fährt oder wir finden, dass es jemand gut gemacht hat, wenn er nur vier Stunden von Berlin nach München gebraucht hat“. Je geringer das Entdeckungsrisiko bei schweren Verstößen sei, „desto höher muss die Strafe sein“.

Tritt auf die Bremse gegen Drängler für viele denkbar

Gestiegen gegenüber 2016 ist die Bereitschaft der befragten Autofahrer zu bewusster Aggression: So schließen 42 Prozent (2016: 30) nicht aus, einen drängelnden Hintermann mit einem kurzen Tritt auf die Bremse zu maßregeln. 46 Prozent (37) würden sich bei einem Stau auf der eigenen Spur möglichst weit vorn einordnen.

Noch deutlicher ist die – in Abstufungen – geäußerte Zustimmung zu der Aussage „wenn ich mich über andere Autofahrer ärgere, muss ich mich sofort abreagieren“ gestiegen, nämlich von 29 auf 45 Prozent. Und nicht einmal jeder Zweite schließt aus, „viel schneller als sonst“ zu fahren, wenn er sich ärgert. „Hier geht es nicht um Kavaliersdelikte, sondern um Fragen der Ethik“, mahnt Siegfried Brockmann.

Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung klafft eine riesige Lücke. So erklären 96 Prozent der Befragten, Radfahrer besonders rücksichtsvoll zu überholen – aber fast ebenso viele beobachten, dass Radfahrer zu dicht überholt werden. Nicht ganz so krasse, aber ähnliche Widersprüche tun sich beim bewussten Schließen von Lücken und bei zu dichtem Einscheren auf.

„Das zu positive Selbstbild ist ein Grundphänomen“, sagt UDV-Verkehrspsychologin Tina Gehlert. Und Brockmann resümiert: „Viele Kampagnen für mehr Verkehrssicherheit laufen ins Leere, weil sie die Adressaten gar nicht erreichen.“

Zur Startseite