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Berlin: „Wir brauchen junge Zuwanderer“

Ein Plädoyer gegen die Angst vor der alternden Hauptstadt

Stand:

In der Politik, in den Feuilletons und an den Stammtischen wird über den demografischen Wandel diskutiert. Ein Thema, das lange ignoriert worden ist: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Gelegentlich bekommt man schon den Eindruck der Panikmache. Es ist zwar richtig, vehement auf den demografischen Wandel aufmerksam zu machen. Es ist aber falsch, zu suggerieren, unsere Gesellschaft zerbreche in naher Zukunft, weil die Lebenserwartung wächst. Die Menschen leben länger, sie sind im Alter weitaus gesünder und aktiver als vor 100 Jahren.

Die Herausforderungen liegen also nur zum Teil in der Frage, wie mit Pflegebedürftigen und Kranken umgegangen wird oder wie unsere Rentensysteme zu sichern sind. Das ist wichtig, aber in den Städten Deutschlands stellen sich noch ganz andere Probleme, die nur mit einer aktiven Stadtentwicklungspolitik zu lösen sind. Inzwischen konkurrieren alle Metropolen der westlichen Welt um junge Erwachsene und Familien. Berlin hat in diesem Konkurrenzkampf Wichtiges zu bieten. Wir sind eine junge, kreative und innovative Stadt, es ist „hip“, in Berlin zu leben. Von 1991 bis 2005 sind über eine Million Menschen zwischen 18 und 35 Jahren nach Berlin gezogen, also mehr als Köln Einwohner hat. Natürlich gab es auch viele Wegzüge, aber im Saldo hat Berlin in dieser Zeit rund 246 000 junge Menschen hinzugewonnen.

Berlin ist spannend und attraktiv, aber leider kein brummender Wirtschaftsmotor. Wer den demografischen Wandel im Blick hat, muss gezielt und aktiv Standort- und Innovationspolitik betreiben. Mitten in der City, neben Bundestag, Kanzleramt und Hauptbahnhof gibt es so viel Platz für Investitionen wie in keiner anderen europäischen Hauptstadt. Was jetzt noch unfertig und leer wirkt, ist unser Potenzial für die Zukunft. Kombiniert mit günstigen Mieten und Eigentumswohnungen, der hervorragenden Wissenschaftslandschaft, aktiver Wirtschaftspolitik und kreativer Szene bringt das echte Vorteile im Kampf um die mobilen, gut ausgebildeten Youngster.

Bildung ist das nächste wichtige Stichwort in der Demografie-Debatte. Berlin muss seine Stärken als Wissenschaftsstadt weiter ausbauen. Um aber in Zukunft genügend junge Abiturienten an die Universitäten schicken zu können, müssen wir uns mit allem Nachdruck um die Bildung der Jüngsten kümmern. Der kostenfreie Kita-Besuch ist die beste Investition in die Zukunft. In Teilen der westlichen Innenstadtbezirke sind Kinder und Jugendliche nicht-deutscher Herkunft in der Mehrzahl. Es ist nicht nur eine Frage der Sozialpolitik, sondern auch des ökonomischen Sachverstandes, Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Perspektive zu bieten. In zehn bis 15 Jahren werden auch in Berlin Fachkräfte fehlen. Schlecht ausgebildete, kaum integrierte junge Erwachsene verursachen hohe öffentliche Ausgaben und Probleme. Nur eine aktive Integrationspolitik, die jungen Menschen Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft eröffnet, wird helfen, dieses Reservoir zu heben.

Dadurch, dass in Berlin gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen früher sichtbar werden als im Rest der Republik, haben wir jahrelang Erfahrungen sammeln können. Wir wissen, dass Kitas, Schulen, Jugendämter und Quartiersmanagement eng zusammenarbeiten müssen, wir brauchen dabei die Mitarbeit von Berliner Türken, Arabern oder Russen. Frauen aus der eigenen ethnischen Gruppe kommen am besten in die problematischen Familien hinein. Projekte wie die „Stadtteilmütter“ in Neukölln können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass z.B. arabische Mütter ihre kleinen Kinder in die Kita schicken, statt sie über den Konsum deutschsprachiger Fernsehserien Deutsch „lernen“ zu lassen. Eine Vision für diese Vorort-Arbeit könnte sein, dass in 15 Jahren viel mehr Berliner Türkinnen oder Araberinnen als Anwältinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen oder Unternehmerinnen unsere Wahrnehmung der Muslima prägen.

Und wir brauchen weitere Zuwanderung, denn die deutsche Bevölkerung schrumpft. Wir müssen als internationale, kosmopolitische Stadt in der Mitte Europas für aufstiegsorientierte Zuwanderer attraktiv sein. Der Ausländeranteil von 14 Prozent (Ende 2006) wird weiter wachsen. Aber die beste Einwanderungspolitik wird nicht verhindern können, dass Berlin altert. Die Aufgabe der Stadtentwicklungspolitik lässt sich also auf diesen Nenner bringen: Das jugendliche Szenevolk muss sich in Berlin genauso wohl fühlen wie jung gebliebene Alte oder die Bewohner von Seniorenresidenzen. Alt sein ist dabei nicht gleichzusetzen mit Hinfälligkeit und Pflegebedürftigkeit.

Und die Anforderungen, die an das Lebensumfeld gestellt werden, sind gar nicht so unterschiedlich. Um von Jungen wie Alten als Heimat angenommen zu werden, muss die Stadt dicht, kompakt und grün sein. Einkäufe müssen in unmittelbarem Umfeld getätigt werden und mit dem öffentlichen Personennahverkehr muss man überall hinfahren können. Diese Bedingungen erfüllt Berlin, die Stadt ist für Familien mit Kindern, aufstiegsorientierte Zuwanderer und für Ältere attraktiv. Auch deshalb registrieren wir seit 1998 ein Ende der „Stadtflucht“.

Die Autorin ist Senatorin für Stadtentwicklung in Berlin.

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