
Bildung: Wissen macht sie stark
Seit 30 Jahren hilft das Projekt "Tio" Migrantinnen, sich mit Bildung aus der Abhängigkeit zu befreien.
Als Hulda Tarim* mit 19 Jahren nach Berlin kommt, kann sie zwei Sätze Deutsch: „Mein Mann ist nicht da“ und „Ich spreche kein Deutsch“. Für die Heirat musste sie in der Türkei die Oberschule abbrechen. Eine Zwangsehe, die ihr Vater eingefädelt hatte und die sie wie ein Gefängnis erlebt. Der Mann – stattlich, sechs Jahre älter, gut gekleidet – wird arbeitslos, entpuppt sich als Tyrann: Hulda darf nicht allein U-Bahn fahren, erträgt die Schläge, sieht zu, wie ihr Mann den Sohn verprügelt. Dann der Ausstieg: In einer Kita, in der sie als Putzfrau arbeitet, erzählt ihr eine Kollegin vom „Treff- und Informationsort für türkische Frauen“ (Tio) in Kreuzberg. Dort lernt Hulda Deutsch, holt ihren Schulabschluss nach, macht eine Weiterbildung und reicht schließlich die Scheidung ein. Nach elf Jahren.
Heute sagt die 41-Jährige, die in der Jugendhilfe arbeitet: „Durch Tio habe ich meine Freiheit und meinen Stolz zurückgekriegt.“ Aus dem 19-jährigen Mädchen ist eine starke Frau geworden: kräftiges, schulterlanges Haar, modische Kleidung, ein fester Blick und eine klare Stimme, die die schrecklichen Jahre im ruhigen Ton beschreibt. „Qualifizierung ist mit die beste Gewaltprävention“, sagt Karin Heinrich, Tio-Projekt-Koordinatorin. Als erste Einrichtung in Berlin für türkischstämmige Migrantinnen ging das Projekt vor 30 Jahren an den Start. Mit Deutschkursen und Beratungen wollten die zunächst ausschließlich ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen den Frauen helfen. „Viele waren direkt aus den Dörfern gekommen, ohne Lesen und Schreiben zu können“, sagt Heinrich. Noch immer sind Migrantinnen, verglichen mit deutschen Frauen, überproportional stark von Arbeitslosigkeit und schlechter Bildung betroffen. Jede siebte, in Deutschland lebende Migrantin kann laut Statistischem Bundesamt keinen Schulabschluss vorweisen.
In punkto Zwangsehe, Gewalt und Unterdrückung hat sich die Situation seit den Siebzigerjahren nicht wesentlich gebessert, berichtet Ayfer Schultz aus dem Tio-Weiterbildungsbereich. Nach einer Studie von 2007, im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, hat fast die Hälfte der türkischstämmigen Frauen bereits zu Hause körperliche Gewalt erlebt. Durch Sprachprobleme, einen unsicheren Aufenthaltsstatus und mangelndes Wissen über Hilfsangebote stehen sie oft alleine da. Auch die Familie ist selten eine Stütze, meint Tio-Mitarbeiterin Heinrich: „Sogar die eigenen Mütter sagen in solchen Fällen: ‚Du musst das aushalten, ich habe das auch ausgehalten.’“
In den Räumen nahe dem Hermannplatz sowie in der Köpenicker Straße können sich Frauen beraten lassen und sogar mit Anfang 50 noch ihren Hauptschulabschluss nachholen. Längst richtet sich das Beratungsangebot nicht mehr nur an Türkinnen, sondern an alle Migrantinnen. Die 25 Mitarbeiterinnen sprechen insgesamt elf Sprachen. Seit den Neunzigerjahren können sich die Frauen hier auch weiterbilden, etwa zur Altenpflegerin, Erzieherin oder Kauffrau für Bürokommunikation. Sogar für den öffentlichen Dienst, zum Beispiel im Bezirksamt Neukölln, werden die Frauen hier vorbereitet. Die bekannte türkischstämmige Frauenrechtlerin, Rechtsanwältin und Autorin Seyran Ates sagt über die Frauen, die bei Tio den Ausstieg wagen: „Sie leben sehr verschlossen in den Wohnungen, haben keinerlei Kenntnisse über die Schule der eigenen Kinder und gehen höchstens mal zusammen einkaufen.“ Tio sei für sie der einzige Ort, wo sie ein alternatives Lebensmodell erfahren könnten.
In den Achtzigerjahren hat Ates in den Tio-Räumen beim Ausfüllen von Formularen geholfen, hat übersetzt und beraten. 1984 fiel sie selbst einem Attentat zum Opfer. Ein Türke stürmte in die Beratungsstelle, zog eine Waffe und schoss um sich. Ates überlebte schwer verletzt – die Frau, die sie kurz zuvor beraten hatte, starb. Danach sicherten die Berliner Taxifahrer den Tio-Frauen ihre Hilfe zu. Wochenlang stand stets ein anderer Fahrer vor dem Eingang, beäugte jeden Besucher mit kritischem Blick. Ein zweites Attentat ereignete sich nicht.
Graffiti im Treppenhaus oder Beleidigungen auf dem Anrufbeantworter von wütenden Ehemännern gibt es indes bis heute. Auch im Frisörladen um die Ecke hat Heinrich kürzlich aufgeschnappt, wie sich türkischstämmige Schwiegermütter unterhielten: „Schick deine Schwiegertochter besser nicht zu Tio, sonst wird sie aufmüpfig.“ Doch die Mitarbeiterinnen lassen sich davon nicht abschrecken. „Klar ist es furchtbar, dass die Probleme mit häuslicher Gewalt immer noch die gleichen wie vor 30 Jahren sind“, sagt ihre Kollegin Ayfer Schultz. Aber gerade deshalb müsse man weitermachen. Kraft gibt ihr, dass viele Frauen der dritten Generation ein größeres Selbstbewusstsein haben und ihre Interessen dadurch besser durchsetzen können als die Frauen, die in den Sechzigerjahren nach Deutschland kamen. Auch die Öffentlichkeit sei für die Belange von Migrantinnen sensibler geworden.
Zwei Straßenzüge lebt Hulda heute von ihrem Mann entfernt. Ihren echten Namen will sie daher nicht nennen. Auf dem Markt ist sie ihm letzte Woche zufällig begegnet. „Mein ältester Sohn ist mein einziger Schutz vor ihm“, sagt sie. Nun hofft sie, für ihre Kinder ein gutes Vorbild sein zu können. „Meine Tochter ist sehr gut in der Schule, sie weiß: Bildung ist der Mama sehr wichtig.“
* Name von der Redaktion geändert
Jörg Oberwittler