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„Die Deutschen sind nicht mehr so weltoffen“: Vielfalt hat einer Studie zufolge in der Gesellschaft an Akzeptanz verloren
Während die Politik über das Stadtbild streitet, zeigt eine Studie, wie es wirklich um die Akzeptanz von Vielfalt in Deutschland steht. Gerade ethnische Vielfalt wird inzwischen kritischer gesehen.
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Fremdenfeindlich oder ehrlich? Die Debatte über Friedrich Merz’ „Stadtbild“-Aussage reißt nicht ab. Scharfe Kritik kommt etwa von der Linken-Fraktionsvorsitzenden Heidi Reichinnek, die dem Kanzler ein „zutiefst menschenverachtendes Weltbild“ unterstellte.
Ausgerechnet ein prominenter Grüner schließt sich Merz dagegen zumindest in der Diagnose an. „Das sind einfach unerträgliche Zustände“, sagte Cem Özdemir, Spitzenkandidat der Grünen zur Landtagswahl in Baden-Württemberg, über die Situation in deutschen Städten. Viele Menschen fühlten sich im öffentlichen Raum unsicher, insbesondere Frauen. Es gebe „offensichtlich ein Problem mit irregulärer Migration“, sagte Özdemir.
Hat Merz mit seiner Äußerung einen Nerv in der Bevölkerung getroffen, wie es viele in der Union behaupten? Eine Studie der Robert-Bosch-Stiftung vom September hat erforscht, wie es um die Akzeptanz von Vielfalt in Deutschland steht. Sie zeigt: Vielfalt hat in der Gesellschaft an Rückhalt verloren.
Vielfalt wird kritischer gesehen – vor allem bei Herkunft
Das sogenannte Vielfaltsbarometer 2025 misst die Zustimmung zu Vielfalt in sieben Bereichen, darunter Geschlecht, sexuelle Orientierung und ethnische Herkunft. Die Befragten stammen aus ganz Deutschland, die Studie ist repräsentativ.
„2019 war es um die Akzeptanz von Vielfalt ordentlich bestellt“, sagt der Studienleiter Klaus Boehnke, Professor für sozialwissenschaftliche Methodenlehre an der privaten Constructor University in Bremen. „Jetzt, sechs Jahre später, stellen wir plötzlich in vielen Bereichen einen Rückgang fest.“
Anhand von Umfragedaten errechneten die Forscher den sogenannten Vielfaltsgesamtindex. Er zeigt, wie die Befragten aus allen Bundesländern und über alle Bereiche hinweg Vielfalt bewerten. Gemessen wird auf einer Skala von 0 bis 100, wobei 0 für völlige Ablehnung und 100 für absolute Befürwortung steht. 2019 lag dieser Wert bei 68, nun ist er auf 63 gesunken.
Was zunächst nach einer kleinen Veränderung aussieht, erweist sich mit Blick auf die einzelnen Kategorien als beachtliche Entwicklung. So hat beispielsweise die Vielfalt ethnischer Herkunft, also die Frage, inwieweit Menschen mit anderen ethnischen oder kulturellen Wurzeln akzeptiert werden, dramatisch an Akzeptanz eingebüßt.
2019 lag der Vielfaltsindex in diesem Bereich noch bei 73 (von 100), nun fällt er auf 56. „Der Rückgang ist ganz erheblich, größer als in jeder anderen Kategorie“, sagte Boehnke dem Tagesspiegel.
Auch beim Thema sexuelle Orientierung ist die gesellschaftliche Akzeptanz um acht Punkte gesunken, sie liegt nun bei 69. In dieser Kategorie mussten die Befragten etwa dazu Stellung nehmen, ob eine Geschlechtsänderung „wider die Natur“ sei. Dem stimmten 35 Prozent völlig oder ziemlich zu.
Der These, es sei „ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“, widersprachen dagegen insgesamt 71 Prozent der Befragten.
Altersunterschiede und Behinderungen sind breit akzeptiert
In einigen Bereichen verzeichnet die Studie jedoch eine ähnliche oder höhere Akzeptanz für Vielfalt als noch 2019. „Wenn es um das Alter oder um Menschen mit Behinderung geht, ist die Gesellschaft sehr tolerant“, sagt Boehnke. Auch die Akzeptanz für geschlechtliche Vielfalt stieg, von 69 auf 74 Punkte. Diese Kategorie bezieht sich auf das Verhältnis von Frauen und Männern, etwa auf die Haltung zur Frauenquote.
Zwischen den Bundesländern zeigt sich eine Angleichung. „Im Osten ist die Akzeptanz von Vielfalt im Schnitt weniger gesunken als im Westen“, erklärt Boehnke. Allerdings war das Ausgangsniveau dort niedriger. Die größten regionalen Unterschiede gibt es nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen zwei Bundesländern im Norden: Der Vielfaltsindex von Schleswig-Holstein liegt mit 65 auf Platz 1, Mecklenburg-Vorpommern bildet mit 59 das Schlusslicht.
Wie erklärt sich Studienleiter Boehnke den Akzeptanzverlust von Vielfalt? „Die Rolle von Corona kann man kaum überschätzen“, sagt er. Während der Pandemie sei den Menschen klar geworden, dass es „nicht immer bergauf“ gehe, sondern der Wohlstand auch sinken könne.
Eine Folge sei gewesen, dass der Wohlstandschauvinismus zugenommen habe, sagt Boehnke. „Die Menschen haben nicht mehr so viel übrig für Vielfalt, weil sie meinen, dass ihnen etwas weggenommen werden soll“, erklärt er. „Und die ‚Fremden‘ werden verdächtigt, etwas wegzunehmen.“
Etwas resigniert resümiert Boenke: „Die Deutschen sind nicht mehr so weltoffen, wie sie es 2019 noch waren.“
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