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Vineta Sareika und Eckart Runge.

© Mike Wolff

Die Primgeigerin und der Cellist: „Bei der Musik gibt es keine Kompromisse“

Ein Streichquartett ist wie eine Ehe zu viert, doch eine muss die erste Geige spielen. Vor ihrem Auftritt im Kammermusiksaal erklären Vineta Sareika und Eckart Runge die Magie von Disziplin und Anarchie.

Der Cellist Eckart Runge, 46, war 1989 Mitgründer des heute berühmten Artemis Quartetts. Primgeigerin Vineta Sareika, 28, stieß 2012 dazu; der zweite Geiger Gregor Sigl und der Bratscher Friedemann Weigle sind seit 2007 dabei. Gerade haben die vier eine Mendelssohn-CD eingespielt, am 8. Mai treten sie im Berliner Kammermusiksaal auf.

Herr Runge, fahren Sie U-Bahn mit diesem Cello?

Eckart Runge: Nein, auch das Radfahren habe ich mir abgewöhnt. Mit Cello ist Car-Sharing das Beste.

Und beim Fliegen, geben Sie den Kasten auf?
Runge: Wer mich bucht, muss zwei Flugtickets zahlen, eins für mich, eins für mein Instrument. Es sitzt dann angeschnallt neben mir.

Frau Sareika, Sie spielen eine Guardagnini von 1793.
Vineta Sareika: Sie ist wunderbar, die Leihgabe eines Mäzens! Alte Instrumente sind empfindlich, die Guardagnini hat so ihre Tage. Da springt ein Stück Holz ab, oder die Decke geht wegen Trockenheit auf und muss über Nacht geleimt werden. Ich habe mal eine Woche auf einem Kreuzfahrtschiff gespielt, also bei hoher Luftfeuchtigkeit. Zurück auf dem Festland klang sie überhaupt nicht mehr, es war ein Albtraum. Der Geigenbauer sagte, in zwei, drei Wochen geht es ihr wieder gut – und so war es auch. Man braucht Geduld. Meine Geige ist mir nahe, wie ein Körperteil, das Instrument war immer da, seit meinem fünften Lebensjahr.

Heute schon geprobt?
Runge: Erst nach dem Interview! Wir proben in der Leipziger Straße, in Daniel Barenboims Musikkindergarten. Wir sind dort, wenn die Kinder gegangen sind, manchmal spielen wir auch für sie, es ist wunderbar zu sehen, wie sie das aufnehmen.

Sareika: Wenn wir neue Stücke einstudieren, proben wir circa vier Stunden täglich, manchmal auch sieben. Und jeder übt noch für sich alleine. Wenn wir auf Tournee gehen wie im März nach Kanada und Amerika, fühlt sich das fast wie Erholung an. Eineinhalb Stunden Einspielprobe, das Konzert, und den Rest des Tages relaxen.

Neun Konzerte in zehn Tagen, ist das nicht anstrengend?
Runge: Na ja, gesund ist es nicht. Im März waren wir auch noch in England, in Wien, in … ich weiß nicht mehr. Ist das Dallas oder Houston, München oder Stuttgart? Irgendwann sehen alle Flughäfen gleich aus. Wobei ich die Reisezeit, ob im Zug oder im Flugzeug, gerne als Bürozeit nutze.

Sareika: Oder du kaufst Instrumente auf Ebay.

Runge: Für schöne Geigen habe ich ein Faible, obwohl ich gar nicht Geige spiele.

Gregor Sigl, Ihr zweiter Geiger, spielt eine Violine vom Wiener Flohmarkt.
Runge: Die habe ich dort mal gefunden, als ich noch studierte. Als ich sie sah, konnte ich nicht widerstehen. 1000 Mark kostete sie, das war ein Vermögen für mich. Tononi stand innen drin – eine Bologneser Geigenbaufamilie aus dem 17. Jahrhundert. Überprüft habe ich das viele Jahre nicht, weil ich Angst hatte, es sei Hehlerware oder eine Fälschung. Sie hing nur zu Hause an der Wand. Es stellte sich heraus, dass es sich zwar nicht um eine Tononi handelt, aber um ein hervorragendes Instrument, das nur restauriert werden musste. Gregor spielt sie tatsächlich bis heute.

Werden Geigen gefälscht, so wie Gemälde? Gibt es Beltracchis unter den Geigenbauern?
Runge: Das gab es früher viel. Heute gibt es eher Scharlatane unter den Zertifizierern. Es sind deshalb schon Leute im Gefängnis gelandet. Das Zertifikat eines renommierten Experten ist viel wert.

"Der Schauspieler weiß, in zwei Minuten sterbe ich auf der Bühne"

Vineta Sareika und Eckart Runge.
Vineta Sareika und Eckart Runge.

© Mike Wolff

Goethe nennt das Streichquartett „eine Unterhaltung von vier vernünftigen Leuten“. Es wird auch gern als Ehe zu viert bezeichnet. Wie intim ist das, was Sie machen?
Runge:Wir kennen uns sehr gut, können Blicke, Mimik und Körpersprache der anderen entziffern. Wir sind füreinander wie ein altes Ehepaar und wittern instinktiv, was bei den anderen los ist. Das ist das Tolle am Streichquartett: Du bist nicht allein. Und trägst nicht allein die Verantwortung.

Sareika: Dummerweise gibt es im Konzert die Sache mit dem Adrenalin. Zu Hause in meinem Kämmerchen klinge ich immer wie Jascha Heifetz. Im Konzert ist Heifetz dann plötzlich weg. Hilfe, ich bin nicht mehr die Größte! Das ist jedes Mal ein Schock. Konzerte bedeuten Stress, egal wie oft man auftritt. Wenn ich meinen schlechten Tag habe, weiß ich, die anderen fangen mich auf.

m die Proben-Arbeit Ihres Quartetts ranken sich wahre Legenden. Es heißt, Sie besprechen jeden einzelnen Takt, wenn Sie ein Werk einstudieren.
Runge: Die Betonung liegt auf „besprechen“. Verbalisieren hilft beim Musizieren, um herauszufinden, welche Nuance des Ausdrucks wir wollen: Ist das jetzt extrovertiert verzweifelt oder mit einer inneren Trauer vorzutragen? Ist das eine joviale Stelle oder ist sie mild-heiter gefärbt? Wir brauchen sehr viele Adjektive beim Proben. Als 2012 Vineta zu uns stieß und wir zum ersten Mal auf Englisch probten, mussten wir unsere wie bei alten Ehepaaren eingeschliffenen Sprachregelungen aufgeben und jedes Adjektiv neu auspacken, das war großartig.

Sareika: Die anderen diskutierten wie immer, und ich sagte, auf Deutsch: Ich verstehe Bahnhof! Wenn man sich dann auf „extrovierte Verzweiflung“ geeinigt hat, muss man die Verzweiflung ja auch technisch umsetzen. Vielleicht haben wir ganz verschiedene Vorstellungen davon, wie sie klingt. Wie wär’s mit mehr Vibrato, das macht es dramatischer? Nein, dann wird es zu theatralisch! Bogendruck, Streichtempo, Vibrato, Kontaktstelle: Wir haben viele Möglichkeiten, den Ausdruck zu verändern.

Runge: Und dann haben wir die Verzweiflung noch lange nicht dem Publikum übermittelt. Die hören die Stelle nur ein einziges Mal. Es ist wie im Theater. Der Schauspieler weiß, in zwei Minuten sterbe ich auf der Bühne. Er hat die Szene hundert Mal gespielt und muss jedes Mal wieder völlig überrascht sein, dass er erdolcht wird. Genauso müssen wir dem Publikum den Eindruck vermitteln, dass sich die Tragödie der Verzweiflung mit der Intensität des ersten Mals abspielt. Wie dick ist der Pinselstrich? Brauchen wir ihn für den großen Saal oder wird es manieriert?

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Pianist Fazil Say haben sich über zwei Töne einer Prokofjew-Sonate einmal so sehr gestritten, dass sie tagelang nicht mehr miteinander redeten.
Sareika: Bei der Mendelssohn-CD haben wir uns über das Tempo des Intermezzos in op. 13 gestritten. Ich spiele diese wunderbare Gesangsmelodie und wollte es langsamer, Gregor Sigl wollte es schneller. Oder gestern, bei der Probe des Schubert-Quintetts …

Runge: … da fand ich, dass die Begleitung im mittleren Teil des langsamen Satzes viel zu aggressiv ausfällt, überpointiert.

Sareika: Aber wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass es kräftig sein soll! Die Stimmung war echt angespannt.

Runge: Wenn wir uns streiten, geht es oft um Grundsätzliches. Der eine besteht unausgesprochen auf sein Recht zum Extrem und wirft dem anderen vor, zu schulbuchmäßig zu sein. Immerhin haben wir gelernt, uns über diesen Subtext Klarheit zu verschaffen, während wir früher eher mal die Kopatchinskaja-Nummer abgezogen haben und schwer bewaffnet zu den Proben kamen.

Sareika:Bei der Musik funktionieren keine Kompromisse. Eine Seite muss nachgeben, sonst wird es schwach.

Runge: Wir müssen so weise sein, nach pragmatischen Lösungen zu suchen, aber allzu weise auch wieder nicht, denn ohne Emotionen taugt die Musik nichts. Also argumentieren wir, kämpfen, schmieden Koalitionen. Zum Glück ist im Konzert nichts endgültig. Heute probieren wir deine Variante aus, morgen meine. Als ich jung war, wusste ich das nicht: Es gab nur die Gegenwart, alles geschah im Augenblick.

Sareika: Ich bin noch nicht so alt. Wenn wir im Konzert meine Version spielen, gebe ich 150 Prozent, um die anderen endgültig zu überzeugen.

Es gibt diese Stereotype, wie kürzlich im Film „Saiten des Lebens“ mit Christopher Walken und Philipp Seymour Hoffman. Die Primgeige ist das perfektionistische Alphatier, die zweite Geige eifersüchtig, die Bratsche eine Meisterin der Diplomatie, am Cello sitzt der Mann mit dem großen Herzen.
Sareika: Oh ja, unser gutmütiger Cellist!

Runge:Jedes Klischee enthält ein Stück Wahrheit. Ich fand den Film nicht schlecht, er erfasst zum Beispiel sehr feinfühlig, dass Konflikte zwischen erster und zweiter Geige unvermeidlich sind, denn es handelt sich um die beiden einzigen identischen Instrumente im Quartett. Und natürlich färbt der Grundcharakter jedes Instruments auf den Musiker ab. Im klassischen Streichquartett waren die Rollen klar von oben nach unten verteilt: Melodie, Harmonie, Basis. Spätestens bei Beethoven ändert sich das, erst recht in der Romantik. Es wird immer demokratischer – womit die Probleme bekanntlich beginnen.

Sareika: Die Musiker im Film machen den Fehler, dass sie ihre Konflikte über Jahre nicht austragen. Deshalb werden Kummer, Frust und Missverständnisse im Herzen eines jeden so groß, dass es eines Tages zur Explosion kommen muss.

Runge: Bei uns gibt’s Gesprächsrunden.

Germany sucht den Super-Geiger

Vineta Sareika und Eckart Runge.
Vineta Sareika und Eckart Runge.

© Mike Wolff

Ein Plenum? Sie reden doch sowieso die ganze Zeit.
Runge: Aber nur über Musikalisches. Wir sind keine zwanghafte Selbsthilfegruppe, manchmal trinken wir nur ein Bier zusammen. Oft genug gibt es was zu klären. Meine Familie kommt zu kurz, können wir die Wochenenden freihalten? Und bitte nicht länger als fünf Tage auf Tournee sein?

Sareika: Oder wir besprechen den Probemodus. Inzwischen ist jeder mal Chef, wir verteilen Präsidentschaften für einzelne Sätze.

Runge: Demokratie will organisiert sein. Besonders bei den Einspielproben vergeben wir temporäre Präsidentschaften, da ist jeder nervös. Vielleicht kommen zehn Freunde von mir, vielleicht schneidet der Rundfunk mit, der eine will sich im Saal vor allem wohlfühlen, der andere eine schwierige Stelle sezieren, also sagen wir: Du machst bei Bartók die Ansagen, und du bei Beethoven.

Herr Runge, Sie sind der Einzige aus der Ursprungs-Formation, haben das Quartett vor 25 Jahren mitgegründet. 2007 wurden die mittleren Stimmen neu besetzt, 2012 die erste Geige. Sie haben ein regelrechtes Casting veranstaltet.
Runge: Germany sucht den Super-Geiger, und wir mussten es auch noch diskret machen. Eine heikle Situation – und eine Operation am offenen Herzen. Die Entscheidung musste einstimmig fallen, nicht viele Geiger kommen infrage. Sie müssen solistisches Niveau haben und dürfen trotzdem nicht 100 Solo-Auftritte im Jahr anstreben. Sie brauchen Kammermusik-Erfahrung, sollen aber nicht in allzu feste Strukturen eingebunden sein: Berlin als Wohnsitz war Bedingung. Am Ende hatten wir sechs Kandidaten. Die dritte Bedingung, die Beherrschung der deutschen Sprache, haben wir wegen Vineta gekippt, als wir merkten, wie die Mehrsprachigkeit unsere Proben bereichert.

In den Zeitungen stand dann, mit Vineta Sareika sei Artemis „jünger, blonder, französischer“ geworden.
Sareika: Französisch? Ich stamme aus Lettland. Gut, ich habe in Paris bei Gérard Poulet studiert. Aber was bitte ist mit meinen russischen Wurzeln von meinem Geigenunterricht zu Hause?

Runge: Die französische Presse fand übrigens, ihr Klang sei deutscher geworden! Vielleicht klingen wir jetzt ein wenig sinnlicher. Wobei der Kern nicht angetastet ist: Wir versuchen, die Musik so tief wie möglich zu ergründen, emotional und intellektuell. Walter Levin vom La-Salle-Quartett verdanke ich die Erkenntnis, dass ein Streichquartett kein Ensemble alter Herren mit Hornbrillen sein muss. Die einzige grundsätzliche Veränderung seit 1989 ist der größere Teamgeist. Anfangs glaubten wir, richtig gut sind wir nur, wenn wir uns hassen. Also stritten wir bis aufs Messer: über die Bedeutung einer Fermate, über Konzertkleidung, darüber, wie man sich verbeugt.

Grundsatzdebatten über die Verbeugung?
Runge: Aber ja. Bitte, wir sind doch hier nicht bei der Bundeswehr! Ist man gleich ein Maoist, wenn man sich kollektiv verbeugt? Und wenn nicht, sind wir ein anarchistischer Hühnerhaufen?

Sareika:Wie lange soll man sich verbeugen und wie tief, wie lange bleibt man draußen, bis man wieder reinkommt, die Liste ist endlos.

Runge: Heute wissen wir: Das Schicksal eines Konzerts entscheidet sich nicht an der Verbeugung. Auch nicht an einer falschen Note.

Als Musiker müssen Sie auf Ihren Körper achten. Was sind die absoluten No-Gos für einen Streicher?
Runge: Ich passe beim Brotschneiden halt auf. Eine gewisse Disziplin bei Tourneen ist unvermeidlich, ansonsten ist vor allem die Balance wichtig. Ein gepflegter Absturz gehört schon mal dazu. No-Gos sind für mich Volleyballspielen ...

Sareika: ... und Squash! Dieses Jahr habe ich es drei Monate mit Squash probiert, das war keine gute Idee. Es überstrapaziert einen dieser Rückenmuskeln, den ich für die Geige brauche.

Ihre Reihe im Kammermusiksaal ist Kult, ein regelmäßiges Heimspiel. Wie berlinisch ist das Artemis-Quartett?
Runge: Irgendwie verkörpern wir die Stadt als Ensemble. Friedemann ist gebürtiger Berliner, Gregor Sigl Bayer, ich habe als eine Art Vagabund hier meine Heimat gefunden, Vineta kommt aus Osteuropa. Wir organisieren uns demokratisch, legen Wert auf Transparenz und Offenheit, das passt zu Berlin. Andere große Streichquartette sind hierarchisch um den ersten Geiger herum organisiert, das passt eher zu einer Stadt wie Wien.

Sie machen manchmal Videoclips, wie Popgruppen. Da sieht man den Potsdamer Platz, Bilder der Großstadt.
Runge: Wir sind ein urbanes Quartett, lassen uns gern von der Stadt inspirieren. Natur ist etwas Schönes, aber auf Dauer würde ich auf dem Land Depressionen bekommen.

Sareika: Als ich vor eineinhalb Jahren hierherzog, bin ich viel in die Philharmonie und die Opernhäuser gerannt. So viel gute Musik, die Qual der Wahl ist manchmal schrecklich hier.

Wir Laien können bei Solisten eine große Bewunderung entwickeln. Gibt es bei Ihnen auch solche Momente der Ehrfurcht?
Sareika: Wenn jemand improvisiert. Bei Leuten wie Keith Jarrett, denen die Musik einfach aus den Fingern fließt, die spielen, so wie andere Menschen reden oder essen. Da werde ich neidisch. Unsereins braucht immer dieses Blatt Papier mit den Noten vor der Nase, sonst sind wir verloren.

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