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Lange Straße. Hier wohnt der Großteil der 300 Einwohner von Arnis. Auf den Bänken trifft man sich zum Klönschnack.

© mauritius images / Wolfgang Died

Kleinste Stadt Deutschlands: Besuch in einer kämpferischen Gemeinde

Arnis an der Schlei hat keine 300 Einwohner – aber lütt ist hier gar nichts. Seinen Status verdankt der Ort nicht seiner Größe, sondern dem Eigensinn.

Eine lange Straße und sechs kurze, ein Bouleplatz, zwei Spazierwege, eine Rum-Bar, ein Rathaus, drei Werften, vier Lokale (Vorsicht: unorthodoxe Öffnungszeiten), zehn sprechende Grabsteine, Hunderte von Segelbooten, Tausende Möwen, kilometerweiter Himmel und jede Menge Flair. Das ist Arnis, Schleswig-Holstein. Stadt Arnis steht auf dem gelben Schild am Eingang, damit bloß niemand auf die Idee kommt, es könnte sich bei der „Perle der Schlei“ um ein Dorf handeln.

Wie viele Einwohner die kleinste Stadt Deutschlands genau hat, weiß nicht mal die Bürgermeisterin aus dem Kopf. Weniger als 300 auf jeden Fall. Seinen Status verdankt der Ort auch nicht seiner Größe, sondern dem Eigensinn. Als der Regierende von Kappeln an der Schlei im 17. Jahrhundert seine Bürger zu Leibeigenen machen wollte, ließen sich das 65 Familien nicht gefallen und wanderten aus. Drei Kilometer weit, auf die unbewohnte Insel im Ostseefjord, die Dank eines Dammes heute eine langgestreckte Halbinsel ist. Eine geplante Stadt.

Seitdem sind dreieinhalb Jahrhunderte vergangen, doch trotz einiger Abriss- und Neubausünden blieb die malerische historische Struktur erhalten, sind die tiefen Gärten zur Schlei bis heute unbebaut. Knorrige Lindenbäume säumen die Lange Straße, an den Wänden der alten Häuser mit verzierten Holztüren lehnen Rosenstöcke. Arnis ist neu aufgeblüht, man sieht dem Ort, der auch einige Durchhänger hatte, den Reichtum der alten Seehandelsstadt wieder an.

Man streitet sich gern und heftig

Anfang September, beste Reisezeit. Im Hochsommer macht man besser einen Bogen um den Ort, in den so viele Tagesgäste strömen, dass man, wie ein Bewohner sagt, aufpassen muss, im Garten nicht gefüttert zu werden. Aber da wissen die Arnisser sich schon zu wehren. Denn egal, ob alteingesessen oder zugezogen, den kämpferischen Freigeist und Stolz der Ursprünge tragen sie in sich. Man streitet sich gern und heftig, gerade im Gemeinderat.

Marina Brügge freut das gerade: dass die Leute sich einmischen, den Ort mitgestalten wollen. „Hier wohnen viele Individualisten, Selbstständige, Kreative, die was erlebt und zu sagen haben.“ Seit drei Monaten ist die 32-jährige Soziologin Bürgermeisterin von Arnis. Ihr gleichaltriger Mann Jan war als Kind aus Hamburg immer in den Ferien hergekommen. Als Bootsbauer kehrte er mit seiner heute vierköpfigen Familie zurück, betreibt nun eine Werft. Ein fröhliches junges Paar, das man sich ebenso gut in Hamburg-Eimsbüttel vorstellen könnte. Sie aber nicht. Sie haben Arnis wegen der Lebensqualität gewählt.

Zu den Aufregerthemen im Gemeinderat gehören die Straßenbeleuchtung, das Feuerwehrhaus und, von existenzieller Bedeutung – die Zahl der Ferienwohnungen. Früher vermieteten die Einwohner ihre Schlafzimmer an Urlauber, dann richteten sie Wohnungen für diese ein. Problematisch wird es, wenn ganze Häuser von Investoren umgewandelt werden. Abschreckendes Beispiel: Dörfer auf Sylt, die im Winter veröden. Wenn das Gleichgewicht kippt, die Einwohner zur Minderheit werden – dann, sagt Bürgermeisterin Brügge, gibt es keine Gemeinschaft mehr, die hier noch generationsübergreifend funktioniert. Wie, das habe sie erlebt bei den Jubiläumsfeierlichkeiten zum 350. Geburtstag des Ortes, der 1934 offiziell Stadtrecht bekam. Aus diesem Anlass haben die Arnisser ein Theaterstück einstudiert, bei dem beide Brügges mitspielten. Der perfekte Weg zur Integration.

Nur ein paar Kilometer zur Ostsee

Treibende Kraft dahinter ist der Berliner Historiker und Künstler Nicolaus Schmidt, der in Arnis eine glückliche Kindheit verbrachte. Wo seine Eltern einen Milchladen hatten und er ein kleines Segelboot. Schmidt brachte 2017 ein Buch zur Geschichte der Stadt heraus, mit eigenen und historischen Fotos. Der Band begegnet dem Besucher jetzt auf Schritt und Tritt, beim Bäcker und in der Töpferei, der Lütt Arnis Butik, der Ferienwohnung und der Schleiperle, dem hellblauen Bootshaus-Café auf Pfählen.

Was Neu-Arnisser natürlich auch anzieht, ist die Lage, nur ein paar Kilometer von der Ostsee entfernt. Man fährt nach Kronsgaard an den Strand, ins Naturschutzgebiet Geltinger Birk. Arnis ist eine maritime Stadt – die Bauern, das sind die Nachbarn in Grödersby. Wahrzeichen von Arnis ist ein Segelboot, das hier ebenso selbstverständlich zum häuslichen Fuhrpark gehört wie das Fahrrad. Und ein Auto. Oder zwei. Denn das ist der größte Nachteil: mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinzukommen, ist vor allem am Wochenende beschwerlich. Die Bahn fährt nur bis Süderbrarup, 13 Kilometer entfernt.

Dafür gibt’s die Mitfahrerbank. Die haben sich Elke und Hendrik Horn zur Hochzeit vor vier Jahren gewünscht. Vor allem Junge und Alte setzen sich drauf, um mitgenommen zu werden. Elke Horn ist mit dem Künstler Nicolaus Schmidt zur Schule gegangen, ihre über 90-jährige Mutter lebt noch in Arnis – die ist gerade auf dem Weg zum Hoffriseur –, zwei ihrer Kinder sind mit ihren Familien zurückgekehrt. Wegziehen? Hat die frühere Lehrerin nie gereizt. Mitmachen? Ja! Zwölf Jahre saß sie, als erste Frau, im Gemeinderat, beim Theaterstück hat sie Regie geführt, ihr Mann hat die Dialoge geschrieben, beim sommerlichen Musikfestival schenken die beiden Wein aus. Und in ein paar Monaten wird Elke Horn wieder im Wintercafé, das sie im vergangenen Jahr mit einer Freundin gegründet hat, selbst gebackenen Kuchen und Filterkaffee servieren.

In den dunklen Monaten wird es ruhiger

Denn in den dunklen Monaten wird es ruhiger, dann fährt auch die Fähre nicht mehr über die Schlei. Jetzt, am Samstagmorgen im September, das Frühstück bei Bäcker Carstensen hinter sich, Sundsacker vor sich, läuft man einfach aufs Boot. Fahrplan? Gibt’s nicht. Der Betrieb läuft, von 8 bis 18 Uhr, Frühjahr bis Herbst. Im Winter muss man kilometerweit bis zur nächsten Brücke fahren. Nicht lange, und Fährmann Nick schlendert aus dem Fährhaus herbei, in dem man auch Labskaus und Matjes essen kann.

Auf der anderen Seite wartet schon Jean-Michel mit dem Schlauchboot. Der gebürtige Franzose mit Schwyzer Akzent und Wohnmobilbewohner, arbeitet bei Event Nature, das neben allerlei Erlebnispädagogik auch Glamping, in großen Zelten mit Doppelbett und Holzterrasse, sowie Segelkurse anbietet. Man kann dort Kanus und Kajaks leihen, was man unbedingt tun sollte. Schon um die Dimensionen des Ostseefjords zu erleben, der bis zu vier Kilometer breit wird, mehr See als Fluss.

Ein Auto braucht man in Arnis selbst natürlich nicht, sogar zum Einkaufen nach Kappeln kommt man zu Fuß oder mit dem Rad, über einen schönen Weg, immer am Wasser lang. Und schnell wieder zurück. In Arnis ist es erholsamer, und noch hat man ja nicht alles gesehen, was die Stadt zu bieten hat. Die Schifferkirche zum Beispiel, zu der eine kleine Lindenallee über den Friedhof führt. Wo der Künstler Nicolaus Schmidt interessante Grabsteine zum Sprechen bringt: Via QR-Code kann man sich die Geschichten von ihm erzählen lassen.

Der schönste Moment kommt am Abend, am kleinen Strand, wenige Schritte von der Kirche entfernt. Der Wind hat den Regen weggefegt und sich selbst gleich mit, der weite Himmel ist zur Ruhe gekommen, ein paar weiße Wolken hängen wie Schiffe im Blau. Möwen kreischen, in der Ferne segelt ein Boot vorbei, zwei Jungs üben Stunts mit dem Mountainbike, „Moin“ sagen die Einheimischen beim Vorbeispazieren, als hätte man noch alles vor sich. Die Abendsonne taucht die ganze Szenerie in ein fast unwirklich goldenes Licht. Zwei junge Frauen laufen durch den Sand. Ich glaube, sagt die eine zur anderen, das wird einer unser besten Urlaube werden.

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