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Das System arbeitet gegen Frauen: Ich war neun und gab meine politischen Ambitionen auf
Als der Plan scheiterte, Klassensprecherin zu werden, hörte ich Hohn und Tadel. Das hat lange nachgewirkt. Damit so etwas nicht dauernd passiert, braucht es Parität – und zwar jetzt!
Stand:
Ich bin neun Jahre alt und will Klassensprecherin werden. Man gendert noch nicht, obwohl gleich zwei Mädchen zur Wahl stehen, und trotz schlechter Umfragequoten bin ich eine von ihnen. Heute Morgen bin ich aufgestanden, um nicht aufzugeben.
In meiner Ansprache fordere ich Unabhängigkeit von strengen Lehrplänen und autoritären Lehrern, mehr Mitspracherecht und eine fairere Bewertung. Viele lange Stunden habe ich meine Argumente im Kinderzimmer auswendig gelernt und stehe nun feuerentflammt vor meinen Mitschüler*innen, die sich müde auf den Bänken krümmen.
Am Ende wird die Auszählung gegen mich sprechen. In der Urne liegt nur eine einzige Stimme.
Damals lernte ich, dass eine Mitgliedschaft in coolen Mädchencliquen, Anbiederungsmaßnahmen oder Lügengeschichten verpflichtend sind für den schulpolitischen Erfolg und dass alles, was ich bin, niemals ausreichen würde. Noch heute habe ich Angst davor, niemals zu genügen.
Ich bin neun Jahre alt und hänge meine politische Karriere an den Nagel. Was wir häufig vergessen, ist, welches Ausmaß ein einziger Tag auf ein ganzes Leben haben kann. Denn wer weiß, wie es gelaufen wäre, hätte die Lehrerin im Anschluss etwas Ermutigendes gesagt.
Wer weiß, wie es gelaufen wäre, hätten die Jungs nicht laut gelacht.
Wer weiß, wie es gelaufen wäre, hätte meine Mutter mich ermuntert, weiterzumachen, und nicht gesagt: »Mädchen ecken nicht an, Mädchen sollen gefallen.«
Ich habe nie über meinen Platz in der Gesellschaft nachgedacht. Politik war für mich stets ein arrangierter Paartanz zwischen Lobbyisten und fragwürdigen Männern, und wenn eine Frau den Sprung auf höhere Plätze schaffte, wurde sie wenig später für ihr Outfit und Verhalten in den Medien zutiefst verachtet.
„Kenn ich alles!“, habe ich gedacht. Der Teenager in mir hat die wenigen weiblichen Figuren nie hinterfragt, weil es nie hinterfragt wurde, nicht von meinen Freunden und gewiss nicht die Schule.
„Demokratie“ – das war etwas, das zwar gelehrt wurde – auf dem Papier, aber nie an der Wahlurne. Woher soll ich auch wissen, wie man Missstände ändert, wenn man mir nur Märchen erzählt, aber nie von starken Frauen? Man stelle sich vor, ich hätte andere Geschichten gehört, wie:
Es war einmal … 1918 und die Klassensprecherwahl liegt noch in weiter Ferne. Am 12. November geht es nicht um politische Ämter oder Ruhm, es geht um das winzige Recht, sich einzubringen. Mehr als die Hälfte Deutschlands will endlich mitbestimmen.
Es ist 1919 und meine feurige Ansprache ist noch längst nicht verfasst. Zum ersten Mal spricht eine weibliche Abgeordnete im deutschen Reichstag, zum ersten Mal wird das Wort »Dame« im politischen Kontext überhaupt genannt.
Es ist 1933 und alles, wofür die Frauen der Weimarer Republik gekämpft haben, wird ihnen aberkannt – der Anfang eines langen, sehr langen Kampfes.
Häufig vergessen wir, welches Ausmaß ein einziger Tag auf ein ganzes Leben nehmen kann. Und wer weiß, wie es gelaufen wäre, hätten die Nazis aus starken Frauen mehr gemacht als Mütter und Hausfrauen. Wer weiß, wie es gelaufen wäre, hätten die Männer nicht laut gelacht. Wer weiß, wie es gelaufen wäre, hätten Frauen niemals angeeckt, sondern immer nur gefallen.
Es wäre nichts gelaufen!
Beim Wort „Feminismus“ ertönen stets dieselben genervten Seufzer
Es ist 1949, und im Grundgesetz steht endlich, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind – natürlich nicht ohne Widerstand. Das weibliche Geschlecht war schließlich irrelevant und schwach. Ja, man! Mein Geschlecht ist seit Tausenden von Jahren so unglaublich „schwach“, damit Männer sich endlich einmal stark fühlen dürfen, und beim Wort „Feminismus“ ertönen stets dieselben genervten Seufzer.
Noch bevor ich Männern erzählen darf, dass es eine Zeit gab, in der ich keinen Führerschein machen durfte. Eine Zeit, in der ich gesetzlich gehorsam sein sollte, eine Zeit ohne eigenes Konto, ohne Gehalt.
Eine Zeit, in der mein Mann Geschlechtsverkehr einfordern konnte, notfalls mit Gewalt. Eine Zeit, in der es okay war, Frauen wie Objekte zu behandeln.
Und dann höre ich dich sagen, dass du das alles nicht wusstest, weil du dich in deinem ganzen Leben als Mann nie damit auseinandersetzen musstest.
Liebe Männer, dann hört mal zu...
Welch ein Luxus es doch ist, die Geschichte der anderen Hälfte einfach auszublenden, weil sie „zu weit in der Vergangenheit liegt“. Dann lass mich dir erzählen:
… von 1957, als neue Gesetzestexte das Narrativ der braven Hausfrau beendeten. Eine Zeit, die nicht im tiefsten Mittelalter, sondern in greifbarer Nähe liegt. Eine Zeit, in der unsere Omas lebten, vielleicht sogar unsere Mütter. Frauen, die sich fragten, wann diese Unterdrückung endlich endet.
Es ist 1997, als Vergewaltigung in der Ehe verboten wird. Noch 25 Jahre zuvor raunt gehässiges Gelächter durch den Plenarsaal, und auch ein Friedrich Merz stimmt gegen den Gruppenantrag.
Also sag mir noch mal, dass der Kampf um Gleichberechtigung nicht nötig ist. Es liegt in meiner DNA, das Unmögliche umzusetzen. Jede vergangene Träne und jeder verdampfte Schweißtropfen sind Teil meiner Genetik, weil so viele Schwestern vor mir aneckten, um für ihre Grundrechte zu kämpfen.
Ich könnte in Tränen ausbrechen, weil ich diese Ohnmacht so gut kenne
Und solange meine Stimme in der Politik als zweitklassig gilt, leben wir nicht in einer Demokratie. Demokratie funktioniert nur, wenn nicht allein Männer mein Leben, meine Rechte, meine Möglichkeiten dirigieren.
Es ist 2025, und auch wenn meine politische Karriere noch am Nagel hängt, ist es heute meine Aufgabe, die nächste Generation von Frauen zu mobilisieren. Weil sie immer noch die gleichen Dinge frustrieren: derselbe Sexismus, die Angst vor dem Heimweg bei Nacht, die Angst vor einem selbstbestimmten Körper, die Sorge, immer anzuecken und nie zu gefallen. Ich könnte in Tränen ausbrechen, weil ich diese Ohnmacht so gut kenne, das Gefühl der Machtlosigkeit, weil man nie mit uns, sondern nur über uns entscheidet.
Auch ich kämpfte einst allein, weil ich es nie anders gelernt hatte. Ich kämpfte, noch bevor ich das Wort »Feminismus« kannte, und heute kämpfe ich gemeinsam mit allen anderen, die an dieselbe geschlechtergerechte Zukunft glauben und Chancengleichheit mitgestalten.
Denn am Weltfrauentag kann ich mir selbst Blumen schenken. Ich kann mir Grußkarten schreiben und bin mein eigenes Dinner-Date. Ich brauche keinen Mann, der die Rechnung übernimmt, ich brauche einen Mann, der mir auf Augenhöhe begegnet.
Sollen die letzten 100 Jahre umsonst gewesen sein?
Denn wisst ihr: Ich will euch keine Macht entreißen, ich möchte euch nicht aus den Parlamenten schmeißen – ich will die Plätze mit euch teilen.
Und deswegen brauchen wir ein paritätisches Wahlgesetz. Die Vergangenheit hat gezeigt, wie wichtig es ist, die Rechte von Frauen in Artikeln und Paragrafen festzuhalten, weil sonst der Stillstand zurückkehrt und die letzten 100 Jahre umsonst waren.
Jeder Feminist ist ein Gewinn, aber ich will nicht warten, bis man mich irgendwann auf Wahllisten unterbringt oder mich aus „Not am Mann“ zur Spitzenkandidatin ernennt.
Ich will nicht darauf warten, dass Medien mich toll finden, oder darauf angewiesen sein, dass Frauen auch untereinander solidarisch sind. Glaubt mir; coole Mädchencliquen sind nicht nur auf Schulhöfen so ein Ding, und ich wünsche mir so sehr, dass endlich ein neues Zeitalter des weiblichen Füreinanders beginnt.
Deswegen rufe ich: Parität, jetzt!
Für alle Frauen und für das neunjährige Mädchen, das heute noch in mir brennt, das damals schon groß war und heute stolz auf mich wäre, könnte sie mich heute sehen.
Der Kampf um Gleichberechtigung ist ein bedingungsloser, weil wir nie wissen, ob wir die Früchte unserer Arbeit je kosten dürfen.
Und trotzdem machen wir weiter – nicht für uns, sondern für alle neunjährigen Mädchen, die in 100 Jahren selbstverständlich die Welt bewegen und sich politisch vertreten fühlen, weil der Bundestag zu mindestens 50 Prozent aus Frauen und zu 50 Prozent aus Männern besteht.
Liberté, Egalité, Parité.
Anecken für einen Weg, den wir nicht allein, sondern gemeinsam gehen, weil Demokratie nur funktioniert, wenn wirklich alle mitreden.
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