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Überblick verloren.

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Die kniffligsten Fälle einer Aufräumberaterin: Chaos im Kleiderschrank

Was sich alles darin sammelt: Kleider, die nicht passen, ungetragene Korsagen. Aber wegwerfen? Niemals! Geschichten vom Festhalten und Loslassen.

Etwa die Hälfte der Kleider hat Größe 38. Es sind ausgesprochen schöne Stücke darunter, Kostüme mit klassisch geschnittenen schmalen Röcken, elegante Blusen, sportliche Hosenanzüge, zwei Cocktailkleider, ein elegantes mit Strass, das andere frech mit Federn. Ein cremefarbenes Chanel–Teil mit passendem Übermantel. Zeitloser Chic. Das einzige Problem: Die Besitzerin trägt längst Größe 42. Die Eleganz bleibt deshalb schon lange im Schrank.

„Was möchten Sie mit diesen Sachen machen?“ frage ich, als ich mit Andrea, 52, vor dem großen offenen Einbauschrank im Schlafzimmer stehe. Die Angesprochene kommt ins Stottern. Ja, die Wechseljahre und ihr Gewicht. Dabei hatte die Fastenkur und sogar einmal Ayurveda in Sri Lanka gut funktioniert, aber dann zurück in Deutschland ...

Der Satz verliert sich im Ungefähren. Wir stehen einen langen Augenblick schweigend vor dem offenen Schrank. „Jedenfalls“, sagt Andrea schließlich, „habe ich fest vor, da wieder reinzupassen. Ich muss nur die richtige Diät finden. Und mehr Sport machen.“

Kleiderschränke sind Festungen des Unbewussten. Sie verstecken viel und können geradezu systematisch unübersichtlich sein. In den vorderen Ablagen tarnen sie sich mit ordentlichen Stapeln, aber dahinter verbergen sich Träume und Traumata, Spitzenkorsagen neben Stützgürteln für die Wirbelsäule, ein abgetrennter Nerzkragen, aus dem nie mehr ein winterliches Stirnband werden wird, die Babyschuhe des Ältesten, der erklärt hat, selbst keine Kinder zu wollen.

Häufig längst aus dem Bewusstsein verschwunden, warten diese Gegenstände auf den Tag ihrer Auferstehung, meist vergeblich. Oder ihre Eigentümer schieben sie hin und her auf der Suche nach anderem: den mokkafarbenen gehäkelten Mantel zum Beispiel, 20 Jahre alt, wirklich außergewöhnlich, eigentlich auch wieder modern, auf jeden Fall zu schön zum Entsorgen – aber irgendwie ...

Überwältigt vom eigenen Besitz

An 290 Tagen im Jahr suchen wir in den immer selben 20 Prozent unserer Kleidung etwas zum Anziehen, hat der Konsumgüterkonzern Procter und Gamble ermittelt. Was aber tun wir mit den anderen 80 Prozent?

Menschen verlieren den Überblick darüber, was sie eigentlich besitzen. Das ist nicht unbedingt eine Frage des Geldes. Weniger Wohlhabende neigen dazu, sich Kleidung bei Tchibo ober Aldi zu kaufen, wo BHs, Schlafanzüge, Regenjacken und Sportdresses immer wieder mal zu Spottpreisen zu haben sind – die Menge künstlich verknappt zu einer Folge von Sonderangeboten, die so attraktiv scheinen, dass man sie eigentlich gar nicht ausschlagen kann.

Andere sind Online-Junkies: Sie machen ihre täglichen „Deals“ am Computer, ersteigern einfarbige Socken oder Unterhosen in Zehn- oder Zwanzigerpackungen auf Vorrat. Ergattern bei Ebay fast neue Nordic-Walking-Stöcke und Faszienrollen oder erliegen einem der vielen anderen personalisierten Angebote, die ein Algorithmus auf ihre Handys und Tablets schickt. Erst wenn die Pakete dann auf dem Küchentisch liegen, schließt sich die Frage an, wo man das in den bereits übervollen Schränken eigentlich verstauen soll. Eine Zeit lang liegen die neuen Errungenschaften noch auf Tisch oder Sofa herum, bis sie dann verschwinden müssen, irgendwo.

„52 Geschirrhandtücher!? Habe ich wirklich 52 Geschirrhandtücher?“

Ich bitte meine Kunden zunächst, alles Gleiche auf einen großen Tisch zu legen – alle Trinkgläser oder Nachthemden, alle Schreibutensilien oder eben alle Geschirrtücher. Der Effekt ist immer derselbe: Die Besitzer sind überwältigt von dem, was sie besitzen, manchmal geschockt, oft beschämt.

Aussortierte Kleidung im Second Hand-Laden.
Spenden für den guten Zweck. Aussortierte Kleidung im Second-Hand-Laden.

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Dann kommt die nächste Frage: Was tun damit? Mit Kleidung lässt sich noch relativ viel anfangen. Man kann sie Oxfam oder der Diakonie spenden oder – bei teuren, gut erhaltenen Markenklamotten – als „vintage“ verkaufen. Manchmal wandern die guten Stücke aber doch wieder in den Schrank zurück.

Geben ist schwerer als Nehmen. Ist es Sentimentalität, eine schöne Erinnerung, die man nicht ablegen will? Oder schlicht das Gefühl, noch etwas einlösen zu müssen, weil das teure Kostüm von Escada eigentlich schon beim Kauf eine Spur zu eng oder eine Spur zu auffallend war und man es höchstens fünf Mal getragen hat. Auf jeden Fall hatte es mal viel Geld gekostet.

Die Mode ist vorbei

„Wie oft benutzen Sie das?“ ist oft die zweite Frage, die ich meinen Kunden beim Aussortieren stelle. Da gibt es diejenigen, die zwar noch in ihre Kleider passen, aber sie dennoch nicht anziehen, um sie zu „schonen“. Das Warten auf elegantere Zeitpunkte ist wenig fruchtbar. Denn wenn schon nicht die Motten die gute Qualität lieben und die Gelegenheit ausnutzen, so ist das Risiko groß, dass Kleidungsstücke aus der Mode kommen oder eben zu eng, eher selten auch zu weit werden. „Wollen Sie denn nur für andere schön sein?“, fragte ich eine Kundin, die ihr schickes Business-Outfit nach der Arbeit regelmäßig gegen ausgebeulte Trainingsklamotten tauschte – obwohl Sieglinde eine Reinigungskraft für den Hausputz hatte und sich nicht selbst schmutzig machen musste. Trotzdem hatte sie einen ganzen Schrank solcher „Sofa-Klamotten“, wie sie selbst sie nannte.

Kleidung passend zum Ich

Meine Frage provozierte ein nachdenkliches Gespräch über den Sinn der Ästhetik. „Wenn ich mich umziehe, verabschiede ich mich von meinem offiziellen Ich“, überlegt Sieglinde laut, während wir die Pullover aus den Fächern nahmen und nach Farben sortierten. „Ich wechsle die Räume und Rollen. Ich muss nichts mehr darstellen, bin einfach ich.“ Sie wirft einen alten Winterpulli auf den Stapel „Weg“. „Ihr wahres Ich trägt Jogginghosen?“, hake ich nach. „Nein, das nun auch wieder nicht.“ Die Fortsetzung des Gesprächs handelt von Körpergefühl und Diäten, von Innen- und Außenansichten, von der Frage, wie Schönheit gesellschaftlich definiert wird und warum die Welt manchmal so hässlich ist.

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Zwei Wochen später, als ich bei Sieglinde wieder vor der Tür stehe, ist eine wundersame Verwandlung passiert. Sie trägt eine cremefarbene Jeans, ein passendes T-Shirt und strahlt. Sie führt mich zu ihrem Kleiderschrank. Keine „Sofa-Klamotten“ weit und breit. Sie hat alles entsorgt oder gespendet. Wie das Nachdenken über die äußere Ordnung unweigerlich Folgen für das Innenleben hat, das fasziniert mich. Täglich neu!

Bei der anderen Kundin, Andrea, ist die Kluft zwischen Innen- und Außenansicht allerdings zu groß und scheint unüberwindbar – so wie die Differenz zwischen Kleidergröße 42 und 38. Zwar hatte auch sie die zu kleinen Designer-Stücke in Kartons verpackt, um sie einem Vintage-Geschäft anzubieten. Doch bevor sie das tun konnte, kam ihr Mann nach Hause und war entsetzt. „Die Sachen sind doch noch gut, die haben mal viel Geld gekostet!“ sagt er vorwurfsvoll. „Das kommt wieder in den Schrank. Du wolltest doch ohnehin abnehmen!“

Die Aufräumberaterin Gunda Borgeest
Expertin für Ordnung. Die Aufräumberaterin Gunda Borgeest.

© privat

Gunda Borgeest hat vor sechs Jahren ihre Firma „Schönste Ordnung“ gegründet, mit der sie Menschen hilft, ihre Wohnungen und ihr Leben aufzuräumen.
Die Wissenschaftsjournalistin Petra Thorbrietz hat Borgeests Erlebnisse aufgezeichnet. Um die Privatsphäre der Menschen in diesen Geschichten zu schützen, wurden einige Details wie Namen, Beruf oder Ort verändert.

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