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„Gefühl für eine demokratische Lebensform“: Tagesspiegel-Gründer Erik Reger über das Debatten-Forum der Zeitung
Schon in der Nachkriegszeit lud der gerade gegründete Tagesspiegel zu öffentlichen Diskussionen. Der Andrang war groß. Und so sprach der Initiator zu Sinn und Zweck des Forums.
Stand:
Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß ich Sie nicht enttäusche, wenn ich ihnen gleich zu Anfang sage, daß ich mit Erlaubnis des Herrn Diskussionsleiters nicht zum Thema spreche. Ich möchte auch nicht sprechen im Namen der Presse, die von den verschiedenen Rednern heute abend, unter anderem auch von dem einen oder anderen der Herren Stadträte, angeredet worden ist, denn das scheint mir im Augenblick nicht wesentlich. Wesentlich scheint mir etwas anderes. Wir haben heute abend von einem der Herren Diskussionsredner gehört, daß das erste Forum des Tagesspiegel wesentlich disziplinierter gewesen sei, und wir haben von einem Zwischenrufer gehört, daß er Redner von mehr Niveau wünscht.
Was das erste anbelangt, so liegt es vielleicht an dem spezifischen Thema dieses Abends, daß die Leidenschaften größer gewesen sind, und daß sich die Bürger mehr als Vertreter von Gruppen gefühlt haben als das letztemal. Das ist ganz natürlich und braucht uns nicht zu beängstigen. Was den Zwischenruf „Mehr Redner von Niveau“ anbelangt, so hätte ich gewünscht, daß der Zwischenrufer uns gezeigt hätte, daß es Redner von mehr Niveau gibt. Aber hier liegt meines Erachtens das ernste Problem, und wenn ich dazu ein Wort sagen darf als derjenige, der den Gedanken dieses Forums zum ersten Male in die Öffentlichkeit getragen hat, so ist es etwas sehr Ernstes. Vielleicht haben auch die Herren Stadträte, die die Freundlichkeit hatten, heute abend dieser großen Versammlung Rede und Antwort zu stehen, einige Male den Eindruck gehabt, daß, um das Wort zu wiederholen, das Niveau etwas abglitte. Aber ich bitte auch diese Herren, sich sehr genau zu überlegen, was darin zum Ausdruck kommt. Zunächst einmal mögen sie versichert sein, daß, wenn öfters nicht zum Thema gesprochen wurde, hierin der leidenschaftliche Wille der Bürgerschaft zum Ausdruck gekommen ist, überhaupt einmal öffentlich das Wort zu ergreifen. (Bravo.) Wir wissen genau, daß wir das Ziel dieses Forums erst in einiger Zeit erreichen werden, und wir haben Selbstkritik genug, und ich hoffe, die Anwesenden werden diese Selbstkritik üben, daß Erfahrungen zu sammeln sind, und daß wir es einige Male in Kauf nehmen müssen, daß vom Thema abgewichen wird. Es ist gar nicht gut, wenn ein Diskussionsredner auf Zwischenrufe „Abtreten!“ und „Aufhören!“ nun wirklich abtritt und aufhört. Er soll den Mut haben weiterzusprechen und die Anwesenden sollten das Verständnis haben, ihn ruhig anzuhören. Das gehört zu den Grundlagen dieses Forums. Wir müssen es lernen, auch diejenigen, die nun nicht unbedingt immer bei der Sache bleiben, anzuhören. Auf der anderen Seite müssen natürlich die Diskussionsredner lernen, wirklich mehr und mehr bei der Sache zu bleiben. Aber auch das ist ein ernstes Zeichen: es fehlt nicht der Mut zu Zwischenrufen, aber es fehlt der Mut sich hier zur Diskussion zu melden, wenn man glaubt, etwas – um das Wort zu wiederholen – von Niveau sagen zu können. In allen vergangenen Zeiten hat der deutsche Bürger schweigen müssen. Was es bedeutet, daß hier zum ersten Male Gelegenheit ist, nicht in einer Parteiversammlung, sondern als Bürger zu reden, muß noch von allen Seiten erkannt werden, und dieses Bemühen läßt jetzt noch das Ganze nicht so prägnant erscheinen.
Wir sind heute in diesen großen Saal gegangen, um so vielen Bürgern wie möglich Gelegenheit zu geben, an der Diskussion teilzunehmen. Aber auch dieser Saal faßt nur 1800 Leute, und schätzungsweise 6000 bis 10.000 Teilnehmer des Forums erheben Anspruch auf Eintrittskarten. Es ist nicht so, daß die Magistratsmitglieder bevorzugt worden wären. Ich darf Ihnen das versichern, und wenn in Einzelfällen solche Dinge vorgekommen sind, so wird sich das nicht wiederholen. Auf der anderen Seite aber gebe ich offen zu, daß die Bemühungen von Behörden- und Parteiseite, an diesem Forum teilzunehmen, mir diesmal etwas zu groß gewesen sind. Wir schätzen es sehr, wenn auch die Behördenmitarbeiter sich bei uns einfinden, es ist notwendig, aber wir wünschen, daß sie sich auch bei uns nicht als Behördenmitarbeiter, sondern als Bürger fühlen, und daß sie nicht glauben, sie müßten gegenüber der Bürgerschaft nun ein möglichst großes Gegengewicht bieten. Damit wäre der Sinn des Forums in sein Gegenteil verkehrt. (Stadtrat Klingelhöfer erhebt sich von seinem Platz und ruft: Quatsch! Herr Reger, wenn Sie sich als Bürger gemeldet haben, dann kommen Sie doch nicht als Angestellter!) Meine Damen und Herren, ich bedauere sehr, daß ein Vertreter des Magistrats uns hier bewiesen hat, daß er die Idee des Forums nicht begreift und auch nicht die Gefahr der Gruppenbildung; daß er nicht begriffen hat, wie sehr hinter jedem einzelnen Thema, das wir stellen werden, das Thema des ersten Abends unsichtbar weiterstehen wird: „Verwaltung und Öffentlichkeit“. Und daher kommt es, daß eben viele Redner von dem speziellen Thema abweichen, weil sie wirklich begriffen haben, daß Verwaltung und Öffentlichkeit das ständige Hauptthema ist. Solange, meine Herren und Damen, in Deutschland die Behörden, Regierungen, Magistrate und was sonst immer nicht lernen, daß sie der Öffentlichkeit etwas schuldig sind, solange sie nicht lernen, daß die Öffentlichkeit ihre Kritik an ihnen nicht aus irgendeinem bösen Willen heraus übt, sondern daß jeder ein Recht zu dieser Kritik hat, daß er sprechen wird jederzeit, und daß er das Recht, zu sprechen, sich erringen wird, koste es, was es wolle (Bravo-Rufe, lebhafter Beifall) – solange, meine Damen und Herren, werden wir nicht von einer Vorbereitung der Demokratie sprechen können in Deutschland, geschweige denn von einer Demokratie. Es ist bedauerlich, daß ich die Dinge in einer Schärfe habe sagen müssen, in der ich sie nicht sagen wollte, und es ist um so mehr bedauerlich, als das von einem Manne veranlaßt worden ist, den ich außerordentlich schätze auch bei allen gegenteiligen Meinungen. Aber hier sehen Sie auch: die Parteien haben es nicht vermocht, ihren Anhängern das beizubringen, was in Deutschland in erster Linie nötig ist: keine Doktrin, keine Pläne, sondern Kühnheit des Denkens, Initiative, Gefühl für eine demokratische Lebensform. (Lebhafter Beifall.)

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