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Dahlien auf der Laga Wittstock 2019.

© promo

„Landtagebuch“ im Tagesspiegel: Im Garten des Chefredakteurs

„Wir auf dem Lande...“ So stieg Zeitungsgründer Erik Reger 1945, als er noch in Mahlow im Süden Berlins lebte, in der ersten Tagesspiegel-Ausgabe in seine Gartenkolumne ein – verfasst unter dem Pseudonym „Campester“.

Stand:

Wir auf dem Lande sind immer Frühaufsteher gewesen und infolgedessen mit dem wechselnden Schauspiel des Sonnenaufgangs vertraut, das in den Horizont des Stadtbürgers stärker erst jetzt getreten ist, da seine Wege weiter geworden sind und die schlechten Verkehrsverhältnisse ihn zwingen, den Tag früher als ehedem zu beginnen. Durch die Ruinen ist auch sein Blickfeld größer geworden, und manches Stück Himmel, das sonst ihm versperrt war, liegt seinem Auge nun offen.

Ob er es genug zu erheben vermag? Wir hier draußen sind bei allen Sorgen doch immer etwas freier. Wenn wir die Sonne aufgehen sehen, empfinden wir, daß der Sinn der Gegenwart in der Zukunft liegt. Wir kennen die lyrischen Aufgänge, bei denen die Wölkchen wie auf alten Madonnenbildern farbig erglühen und mit sich selber spielen, und die dramatischen Aufgänge, wenn das Feuer mit dem Nebel ringt, so daß in der Ebene den Eindruck eines plötzlich hereinbrechenden Gebirges entsteht. Manche Aufgänge sind sachlich und klar: dann tritt die Sonne in ruhiger Größe wie ein abgezirkelter Ball über den Horizont. Andere sind romantisch phantasievoll und schwärmerisch, wie die lichten Schnörkel auf einem Bilde von Philipp Otto Runge.

All das sehen wir auf dem Lande, auch wenn wir bisweilen, genau wie der Stadtbürger, versucht sind, nur unsere Stiefelspitzen zu sehen. Wir wissen, daß zwei Stunden vor der Sonne die Vögel erwachen, zuerst die Amseln, darauf der Kuckuck, zuletzt mit dem gefräßigen Lärm der Charakterlosigkeit die Spatzen. Alle außer ihnen sind in diesen Herbsttagen verstummt. An Stelle der Schwalben fliegt der mißtönende Ruf der Krähen durch den grauen Morgennebel. Doch immer noch streicht eine halbe Stunde vor der Sonne der Wind vorübergehend an der Erde hin, und im letzten Augenblick wirft flimmernder Dunst sich über die Wipfel de Birken. Der Tau steht auf den Pflanzen, als seien sie beregnet, während die rosavioletten Frühwolken wandern und die Nebel steigen und fallen.

„Von Tau die Nächte strahlen“, heißt es im „Kreis der Jahreszeiten“ Kalidasas. Wie die Nächte, so jetzt auch der schwerelose Morgen bis weit in den Tag hinein. Die Gräser erscheinen fetter, die Blätter kräftiger und wüchsiger unter der Fülle des Taus. Da die Anmut triumphiert und die Angst vor der Glut eines Sommermittags geschwunden ist, feiern, ehe die Trauer der Vergänglichkeit anhebt, alle Blüten noch einmal Auferstehung. Die Einjahrsblüher, die wir mit geringer Mühe auch in diesem Jahre ausgesät haben, wuchern mit den Gaben, die ihnen die Natur geschenkt hat. Das weiße Alyssum Benthami, das seit Juni ununterbrochen blüht, erinnert mit seinen ausgreifenden Büschen an das Stauden-Iberis des Frühlings. Calliopsis, das „Schöngesicht“, macht mit den dunkelbraunen oder hellgrauen Augen seinem Namen Ehre. Ein Samenkorn, irgendwohin gestreut, vollendet sich jetzt wie ein Zauber. Astern strahlen, der Phlox ist voller farbiger Blüten.

Den Rang der Rosen machen die Dahlien streitig. Tausenderlei bunte Blumen drängen noch einmal ans Licht, das ihnen von einem Himmel entgegenkommt und sich gütig und warm näher herabgesenkt zu haben scheint. Und die Wiesen sind, wie aus Boccaccios „Dekamerone“, von „ganz kurzem und so dunkelgrünem Grase, daß es beinahe schön anmutet.“ CAMPESTER

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