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Eine glückliche Familie versammelt sich zu Hause zu einem traditionellen Weihnachtsessen mit Gans.

© Getty Images/Gorodenkoff

Ich schaffe mir das Gefühl, jenseits der Zeit zu sein: Weihnachten, die Gans und das Leben in der Schwebe

Am ersten Feiertag, mit der Zubereitung der Gans, beginnt für unseren Autor eine Zeiterfahrung jenseits des Alltags. Wie er da hinfand – und warum Tradition und Nostalgie allein nicht helfen.

Ralf Schönball
Ein Essay von Ralf Schönball

Stand:

Prall wölbt sich die Gans auf der knapp bemessenen Servierplatte. Die Haut glänzt goldbraun im flackernden Licht der Kerzen. Der Wein ist eingeschenkt in gläserne Kelche. Das tiefe, fast schwarze Rot glimmt still.

Es ist angerichtet. Aber noch hat niemand Platz genommen. 

Die Ruhe an diesem Abend, an der gedeckten Tafel, sie läutet eine Zeitlichkeit ein, die ich so nur aus dem Zwischenreich der Jahre kenne. Jedes Jahr sehne ich mich danach. Die Zubereitung der Gans am ersten Weihnachtstag ist die Meditation, mit der ich mich auf den Weg mache.

Eine Gans am zweiten Weihnachtstag ist eine Tradition, die zurückgeht bis in meine Kindertage. Nach dem Servieren und dem zweiten Glas Wein zeigte mein Vater Gefühle, die er den Rest des Jahres mit aller Gewalt unterdrückte. Er ist schon lange tot.

Meine Mutter, die nach der Darreichung der Gänsebrust in banger Erwartung das Urteil des Hausherrn herbeisehnte, hat die Krankheit um Erinnerung und Selbsterfahrung gebracht.

Jetzt bin ich es, der die Gans zubereitet.

Weihnachten, die Gans, die christliche Botschaft: So weit, so banal, könnte man meinen. Doch das trifft es nicht. Die Kirche und ihre frohe Botschaft erweichen nicht wirklich mein Herz, nicht mal am Heiligabend. 

Ich bin zwar empfänglich für die Botschaft der Liebe und die großen biblischen Bilder: das Brot zu teilen und den Wein zu trinken, also in Gemeinschaft da zu sein. Doch die Erfahrung, nach der ich mich jedes Jahr sehne, die besteht nicht aus Zeichen und Wundern oder Symbolen. Vielmehr ist es die Präsenz in einer zeitlosen Gegenwart, in der auf natürliche Weise alles an seinem Platz und gut ist. 

Ein seltener Moment, in dem man einfach nur da ist.

Wie soll man das einordnen? „Ihre Erfahrung ist ein Ausbruch aus dem normalen Zeitgefüge, ein seltener Moment, in dem man einfach nur da ist, seiner selbst bewusst und dabei positiv gestimmt“, sagt der Psychologe Marc Wittmann, der in den kognitiven Neurowissenschaften zur Zeitwahrnehmung forscht. Diese Erfahrung unterscheide sich von jenen im Alltag, wo wir uns „zwischen zwei Polen aufgespannt“ bewegen, an denen die Zeit entweder vorbeigeht wie im Flug oder einfach nicht vergehen will.

Das erste ist der Fall, wenn wir geschäftig sind, ganz versunken in eine Tätigkeit, die uns voll und ganz in Anspruch nimmt. Wir sind „im Flow“, wie man neudeutsch sagt: Wir vergessen Zeit und Raum, tauchen ab, mitunter erst Stunden später wieder auf – und staunen, wie die Zeit vergangen ist.

Ganz anders ergeht es uns am anderen Pol unserer Alltagserfahrung: wenn wir uns langweilen. Da will die Zeit einfach nicht vergehen, wir werden uns ihrer fast schon schmerzhaft bewusst. Wir sind mit der Welt verbunden, aber unter negativem Vorzeichen. Weil wir auf etwas warten, weil etwas fehlt, aus einem Mangel heraus? Jedenfalls sind wir unbehaglich hier und viel zu sehr im Jetzt.

Der schöne Begriff der Muße

Das ist anders jetzt, zwischen den Jahren, zwischen den Zeiten. In diesem dritten Zustand, auf den am ehesten der schöne deutsche Begriff der Muße zutrifft. Das Wort ist aus der Mode gekommen, für manchen sogar negativ besetzt. Für Muße ist keine Zeit in unserer spätkapitalistischen Weltordnung, wo alles Handeln und Streben dem Ziel untergeordnet ist, dass es sich auszahlen muss oder wir einen Mehrwert schaffen.

In der Muße dagegen sind wir uns laut Marc Wittmann „unserer selbst intensiv bewusst, körperlich sowie narrativ“. Die Zeit dehnt sich aus, wobei dieses Gewahrsein der Gegenwart gerade nicht von negativen Gefühlen begleitet wird. Weil wir das Leben, so wie es ist, als befriedigend ansehen. Oder weil wir vielleicht umgeben sind von guten Freunden oder von der Familie und das genießen. 

Genügen also eine positive Bilanzierung des Daseins und gute Gesellschaft zur Herstellung dieser Befindlichkeit? Ich bin mir nicht sicher, ob diese Erfahrung wirklich an Voraussetzungen geknüpft ist. Oder ob sie sich nicht vielmehr einstellt, einfach nur so.

Es ist nicht Regression oder Nostalgie

Sicher ist jedenfalls, dass die Gans und das Zwischenreich der Zeit kein schwärmerisches Widerhallen meiner frühen Kindheit sind, nicht Regression oder Nostalgie. Dazu eignen sich die Umstände meiner jungen Jahre nicht. 

Denn die Zubereitung der Gans im Hause meiner Eltern war damals eher ein letztes Aufbäumen des stresserfüllten Alltags gegen das Versprechen auf die bevorstehenden Stunden der Muße. Meine Mutter verbrachte den Tag in der Küche, wo mein Vater gelegentlich hereinschaute, um Mahnungen auszusprechen: Der Ofen ist zu heiß, wir müssen die Gans begießen, die Haut wird zu dunkel und so weiter.

Diese Prägung blieb nicht ohne Folgen, als ich nach der Geburt unserer Kinder dieses Ritual in meiner eigenen Familie einführte. Die Gans bereitete ich selbst zu. Und wenn sie fertig war, mussten Klöße und Rotkohl, die meine Frau verantwortete, unbedingt pünktlich servierbereit sein. Waren sie es nicht, geriet ich in Panik, die Gans zu verkochen, und brach schon mal einen Streit vom Zaun zum Warum und Wieso des Verzugs. 

Weil das Bild des Vaters in mir wirkte oder weil ich Stress und Hektik des Alltags nicht abgelegt hatte? Oder von beidem etwas?

Kein Bangen, kein Hoffen – wird schon schiefgehen!

Vielleicht fehlte mir auch die Erfahrung, die Übung, die inzwischen, nach Jahren der immer gleichen Zubereitung, das Bangen und Hoffen abklingen lässt. Wird schon schiefgehen.

Jedenfalls hat sich Routine eingestellt, Gelassenheit, die schon die Zubereitung dieses feierlichen Mahls zur Muße macht.

Es ist angerichtet. Aber noch hat niemand Platz genommen.

© Ralf Schönball

Ich ziehe das alte, hektisch dahingekritzelte Rezept, das meine Mutter mir vor Jahren am Telefon diktiert hatte, aus der Tiefe der Schublade hervor, erwäge Alternativen – Niedrigtemperaturgaren, in Folie backen –, verwerfe sie wieder. Ich bin ganz erfüllt von der Aufgabe, deren einzelne Schritte mir inzwischen leicht von der Hand gehen.

Dazu trägt bei, dass wir die Gans am ersten Feiertag zubereiten. Dieser ist für mich „der Tag danach“. Heiligabend ist vorbei, die Kirche, die Geschenke, das Essen und Trinken. 

Noch ein wenig benommen vom ersten Schlemmen, wache ich am 25. Dezember auf in einer Stadt, die still steht. Wer nicht muss, geht am Morgen des ersten Feiertags nicht vor die Tür. Kein Verkehr, kein Lärm, Berlin nimmt sich eine Auszeit von sich selbst. Und wir auch. Daher ist Zeit für ein ausgedehntes Frühstück, gegen elf, für die Zeitungslektüre. Körper und Geist regeln sich runter.

„Das, wofür es sich zu leben lohnt“, nennen es die Japaner

Nahtlos schließen sich die vorbereitenden Tätigkeiten für die Mahlzeit am frühen Abend an: Ab- und Auswaschen der Gans, Anbraten der Füllung, Salzen und Pfeffern, Würzen, Äpfel schälen, Maronen bereitstellen. Das Dekantieren des Rotweins nicht zu vergessen und – je nach Laune – ein erstes Gläschen.

Sie sind konzentriert, achtsam, meditativ.

Marc Wittmann, Psychologe

„Sie sind konzentriert auf die Aufgabe: Welche Gewürze, wie viele, wie lange lasse ich es vorköcheln? Sie sind achtsam, meditativ“, beschreibt das der Psychologe Wittmann. Die Handgriffe werden mit Bedacht ausgeführt, es ist Zeit genug zur Kontemplation. 

Überhaupt die Zeit: Stunden vergehen bei der Zubereitung, Stunden liegt das Tier im Ofen, Zeit genug für einen Plausch, ein Brettspiel, eine alte, einst geliebte CD aufzulegen, die Kerzen anzuzünden.

„Das, wofür es sich zu leben lohnt“, nennen die Japaner einen Zustand, der diesem sehr nahekommt. Das Wort dafür ist: Ikigai. Davon handelt das gleichnamige Buch des Gehirnforschers Ken Mogi, der im Ikigai das Rezept für Glück und Gesundheit sieht. 

Das Ikigai erreicht man durch eine Tätigkeit, die in Perfektion ausgeübt wird: das Brennen eines einzigartigen Porzellans, die Zubereitung von Sushi, die Züchtung einer ganz besonderen Frucht. Die „innere Freude und Befriedigung“ stellen sich nur dann ein, wenn das Produkt der Tätigkeit nichts zu wünschen übriglässt. Und weil der Meister selbst der härteste Kritiker seines eigenen Schaffens ist, ist das Urteil anderer nachrangig.

Vielleicht erlebte meine Mutter bei der Zubereitung der Gans auch eine Art von Ikigai. Denn selbst wenn wir das zarte Fleisch und die kross gebratene Haut in höchsten Tönen lobten, hatte sie immer noch das eine oder andere am Ergebnis ihres Schaffens auszusetzen. Oder diente die Selbstkritik dazu, dem Nörgeln ihres Mannes den Wind aus den Segeln zu nehmen und mehr von unserem lobenden Widerspruch einzuheimsen?

Dann erzählte er von seinem Leben, mit Wehmut

Als mein Vater noch lebte, war aber weder die Gans noch deren Zubereitung der Anfang der müßigen Tage, sondern deren Verköstigung. „Ach, jetzt habe ich wieder viel mehr gegessen, als ich wollte“, stöhnte er noch während der Mahlzeit. Und dann erzählte er aus seinem Leben, mit Wehmut über Fehltritte oder sein aufbrausendes Gemüt. Oft folgte eine Liebeserklärung an meine Mutter, Lob für ihre ausgleichende Art, die ihm manche Maßregelung oder, schlimmer noch, Ächtung in gesellschaftlichen Kreisen erspart habe – Tränen glänzten dann in seinen Augen. 

Uns berührte das, denn dieser Mann, der den Krieg als Kind erlebt hatte, hatte diesen sein Leben lang im Alltag weitergeführt – gegen andere, gegen sich selbst. Gefühle wischte er mit der barschen Aufforderung beiseite: „Jetzt stell‘ dich nicht so an!“

Wie viel leichter haben wir es heute, uns Zutritt zu diesem Zwischenreich der Jahre zu verschaffen! Wir müssen nur loslassen, vor allem unsere Erwartungen: dass die Gans perfekt gelinge, die Harmonie ungestört bleibe und die Weihnacht weiß und feierlich werde. Wer nichts erhofft, den kann nichts enttäuschen – und das, was dann an Schönem geschieht, wird ihm wie das perfekte Glück erscheinen.

Wenn die Gans auf dem Tisch ist, am zweiten Weihnachtstag, die Portionen auf den Tellern und die Gläser gefüllt, dann werde ich – mit etwas Glück – wieder da sein, in diesem Zwischenreich. Die Kinder und meine Frau werden von ihren Plänen erzählen, meiner Mutter werde ich ein Lächeln entlocken. Und die Zeit wird auf unserer Seite sein, für ein paar Stunden oder sogar Tage.

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