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Ohne ihren Einsatz wären noch mehr Menschen am Coronavirus gestorben. 80.000 konnte auch intensivmedizinische Betreuung nicht retten.

© Stefan Weger

Letzte Verteidigungslinie in der dritten Welle: Intensivpflegekräfte brauchen mehr als unseren Dank!

Der Kampf der Pflegerinnen und Pfleger wurde beklatscht. Doch was sie brauchen, ist eine effektive Pandemiepolitik. Daran scheitert Deutschland. Ein Kommentar.

Julius Betschka
Ein Kommentar von Julius Betschka

Stand:

Alle paar Stunden, das ist der träge Rhythmus ihres Kampfes, müssen die Patienten auf der Intensivstation gewendet werden. Von der Bauchlage, um die Lunge zu entlasten, wieder auf den Rücken. Drei bis vier Pflegekräfte sind dafür je nach Gewicht der Covid-19-Patienten notwendig.

Seit 14 Monaten geht das für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf den Intensivstationen so, 80.000 Menschen konnten sie nicht retten, mehr als 5000 liegen aktuell auf den Stationen. Während die dritte Welle über das Land rollt, werden noch Kranke der zweiten Welle maschinell beatmet.

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Am Anfang wurde dieser Kampf hinter den Krankenhausmauern beklatscht, die Pflegekräfte auf den Intensivstationen als Helden gefeiert. Heute nehmen sich Politik und Gesellschaft immer häufiger eine Auszeit vom Denken an die Pandemie und all jene, die an vorderster Front gegen sie kämpfen: Da kommt eine frisch gekürte Grünen-Vorsitzende dazwischen, ein CDU-Hahnenkampf, Fußballtopclubs auf Abwegen.

Auf den Intensivstationen gibt es spätestens seit Beginn der zweiten Welle keine Pausen. Hier herrscht seit 14 Monaten ein ungleicher Abnutzungskrieg. Jeder dritte Patient verliert ihn. Die Mitarbeiter bleiben.

Pflegerinnen und Pfleger von Vivantes und Charité ließen sich vom Tagesspiegel fotografieren, um auf die Situation auf den Intensivstationen aufmerksam zu machen.

© Stefan Weger

Viele Pflegkräfte fühlen sich längst wie verschlissene Puzzleteile in einem einigermaßen zynischen Planspiel: Wie viel schwerkranke Corona-Fälle kann das Land in Kauf nehmen, damit die Intensivstationen zwar bis an den Rand des Zusammenbruchs belastet werden, aber nicht darüber hinaus. Das ist die politische Währung der dritten Pandemie-Welle. Sie hinterlässt Spuren: In den Gesichtern der Intensivpflegekräfte, die Entzündungen von den Masken wie eine besonders schmerzhafte Form der Kriegsbemalung tragen. Die politischen Entscheider ruhen sich indes aus auf der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern. Auch das hinterlässt Spuren, die nicht sofort sichtbar sind – aber bald umso schmerzhafter für alle spürbar werden.

[Der große Report: Wie es wirklich auf den Intensivstationen zugeht]

31 Prozent der nichtärztlichen Mitarbeiter in den Intensivstationen, Notaufnahmen und im Rettungsdienst wollen in den kommenden zwölf Monaten ihre Arbeitsstelle aufgeben. 72 Prozent der nichtärztlichen Mitarbeiter geben an, dass sie sich während der aktuellen dritten Welle der Coronapandemie völlig überlastet fühlen. Das geht aus einer Onlineumfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin hervor, mehr als 1000 Menschen nahmen teil. Laut Zahlen der Arbeitsagentur verließen im Pandemiejahr 9000 Fachkräfte ihren Job.

„Liebe Entscheidungsträger, wie hoch sollen die Zahlen denn noch steigen bevor ihr reagieren wollt??? Wir verpassen jede Ausfahrt zur Senkung der Zahlen“, schrieb der Intensivmediziner Christian Karagiannidis kürzlich. Doch all diese Signale werden weitgehend ignoriert. Aus der angeblichen Herrschaft der Virologen, der Mahner und Mediziner, ist längst eine Regentschaft der Zögerer und Zauderer geworden. Die Pandemie wird in Deutschland von allen Seiten wegdebattiert und neuerdings auch -ironisiert.

Sie kämpfen um das Leben unserer Freunde und Verwandten

Die deutsche Politik hat es so geschafft, verschiedene Berufs- und Bevölkerungsgruppen aus dem anfangs solidarisch geführten Kampf gegen das Coronavirus herauszulösen und gegeneinander aufzubringen. Jeder kämpft jetzt für sich. Das Ziel ist nur noch, das Allerschlimmste zu verhindern bis das Impfen in der Breite wirkt: den Systemzusammenbruch.

Doch die Frage nach Leben oder Tod stellt sich letztlich auf der Intensivstation. Hier ist der letzte Halt.

Es reicht gewiss nicht, aber es ist doch das Mindeste: Dank muss alle jenen gelten, die täglich hinter Masken und Mauern versteckt, um die Leben unserer Freunde oder Verwandten kämpfen. Er gilt allen, die am Ende ihrer Kraft sind und über sich hinauswachsen, um Leben zu retten. Jede und jeder kann sie unterstützen, in dem Maske getragen und Abstand gehalten wird und alle sich dort einschränken, wo immer es nach dieser langen Zeit noch möglich ist.

Die Menschen, die all ihre Kraft auf den Intensivstationen geben, brauchen kein modernes Heldenepos. Sie brauchen eine solidarische und effektive Pandemiepolitik. Daran scheitert Deutschland seit Monaten und taumelt am Rand der Überlastung. Im Kleinen muss dieses Scheitern alle paar Stunden auf den Bauch gewendet werden. Es braucht jedes Mal bis zu vier Menschen dafür.

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