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Geflüchtete, hier an der Berliner FU, fühlen sich oft als Gruppe und nicht als Einzelpersonen wahrgenommen.

© dpa/Gregor Fischer

Lesermeinung: "Ich bin die Flüchtlinge!"

Eine Leserin hat durch den Krieg in Syrien alles verloren. Seit sie in Europa ist, spürt sie auch den Verlust ihrer Individualität. Ein Leserbrief.

Dieser Text ist ein Leserbrief, der im Tagesspiegel vom 27. 1. 2019 erschienen ist.

Versuchen Sie zu erraten, wer ich bin! Ich bin mehr in den Medien als Donald Trump und seine Tweets, Erdogan und seine Demokratie, Putin und seine Politik. Ich war der Hauptgrund für das Scheitern der Regierungsbildung in Deutschland und für die Erstarkung der Rechten in Europa. Ich bin die große Sorge vieler Bürger in diesem Land, denn ich bin gefährlicher als Altersarmut, Misshandlungen in den Familien, Umweltverschmutzung, Drogenkonsum, Klimawandel, Mangel an Pflegekräften und Erzieher. Ich bin derjenige, der sich immer schuldig fühlt für die Fehler anderer Menschen. Menschen, die er gar nicht kennt. Ich bin derjenige, der sich immer schämt, Nachbarn zu begrüßen, wenn wieder irgendwo etwas passiert. Ich hafte für die Fehler jedes einzelnen und fühle mich bedroht von jedem Bericht in den Medien.

Dieser wichtige Leserbrief müsste viel prominenter platziert werden! Natürlich mache ich mir keine Illusionen, dass man damit alle 'besorgten Bürger' und Salonnazis umstimmt, aber wenn man wenigstens den ein oder anderen auf der Kippe stehenden Bürger zum Nachdenken anregen könnte, wäre das ein Erfolg.

schreibt NutzerIn DaW

Habt ihr mich erkannt? Ich bin die Flüchtlinge! Und es ist kein grammatikalischer Fehler aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse. Ich bin die Flüchtlinge! Und zwar alle Flüchtlinge. Ich bin kein Arzt, kein Jurist, weder Bauer noch Journalist, kein Künstler, kein Verkäufer, weder Taxifahrer noch Lehrer, sondern die Flüchtlinge. Obwohl ich aus einer kleinen Stadt in Syrien komme und für mich die Leute in Damaskus schon fremd waren, bin ich, seitdem ich in Europa bin, einer von Hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan, Irak, Iran und Afrika. Obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, verschiedene Religionen und Vergangenheiten haben, geschweige denn Weltansichten und Meinungen. Aber wen interessieren solche Unterschiede, wir sind am Ende alle die Flüchtlinge. Ich habe durch den Krieg Freunde und Verwandte verloren, Wohnung, Job, Auto, meine Vergangenheit und meine Heimat. Aber ein Verlust, den ich erst später gespürt habe, ist meine Individualität, die ich am Schlauchboot an den Grenzen Europas zurückgelassen habe.

Vinda Gouma, Juristin aus Syrien, ist seit sechs Jahren in Berlin und machte an der Humboldt Uni ihren Master of Laws

Vinda Gouma

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