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Medien: Allein gegen sechzig Störsender

Der Rias brachte Politik, Tanzmusik und Hans Rosenthal auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs

Es piept in der Wolldecke, unter die sich Handwerksmeister Walter H. verkrochen hat. Wehe, ihn stört einer. Dies ist seine Stunde, er hält das Ohr noch dichter in den Radioapparat, das Fiepen und Rauschen der Störsender, von denen sie über sechzig gegen den Rias in Stellung gebracht haben, wird unerträglich. Aber was dennoch zwischen all dem Gejaule aus dem fernen West-Berlin über den Äther durch den Eisernen Vorhang bis in die Oberlausitz dringt, ist Himmelsmusik in seinen Ohren. Walter lacht manchmal so heftig, dass die Decke wackelt: Er hört die Insulaner. Das Kabarett von der Insel im roten Meer mit dem Herrn Pollowetzer, dem Genossen Agitator, mit Professor Kwatschni und den beiden Damen, die – „sehn se, det is Berlin!“ – sich immer auf dem Kurfürstendamm treffen, ist viel mehr als die Direktübertragung einer humorvollen Radiorevue. Sie bringt in den 50ern vielen DDR-Menschen das Lachen und etwas Licht in eine finstere Zeit. Und sie nährt die Hoffnung, dass das großmäulige, fünfjahresplanmäßige Funktionärsgebaren der großen und kleinen Ulbrichts bald ein Ende haben möge. Nicht der Insulaner allein hoffte unbeirrt, „dass seine Insel wieder ’n schönes Festland wird“.

Der Kalte Krieg hatte den Rias groß und unverwechselbar gemacht. Jeder Nachrichtensendung schickte er die Botschaft voraus, dass hier „eine freie Stimme der freien Welt“ zum Hörer spricht. Wem diese Stimme in der „Zone“ oder später in der DDR nicht gefiel, weil er sie für einen imperialistischen Störenfried beim sozialistischen Aufbau hielt, der schaltete ab, oder er sah in allem, was da aus dem Rias-Hause kam, eine „Rias-Ente“, im schlimmsten Falle denunzierte er Mitbürger. „Rias hören ist drüben Sabotage am Trommelfell“, sagte Kabarettist Wolfgang Neuss. Vor dem Rias hatten die Genossen richtig Angst. Humor tötet. Und was die eigene gleichgeschaltete Presse nicht berichten wollte oder durfte, das sagte der Rias.

„Ein Glück, dass es ihn gab“, erinnert sich ein älterer Hörer aus Ost-Berlin, „wer wollte, konnte so der vollständigen Verblödung entgehen, Rias erweiterte den Horizont – von der Politik bis zur Tanzmusik.“ Der Sender wurde besser informiert als seine Konkurrenz in der Nalepastraße – von den Hörern „drüben“, die die Sendung „Aus der Zone für die Zone“ mitgestalteten und manchmal die haarsträubendsten Dinge an die große Glocke hängten, indem sie dem Sender schrieben oder den gefährlichen Weg in die Kufsteiner Straße wählten, so lange das noch ging – bis zum 13. August 1961. Hätte die DDR eine andere Presse- und Meinungsfreiheit praktiziert – nie wäre der Sender so bedeutend geworden, dass man noch so viele Jahre nach seinem Ende an Pinsel und Schnorchels Dialoge denkt und jeder seine eigene kleine Rias-Geschichte aus der Erinnerung holt.

Für den Berliner Journalisten Wolfram Schroeder war die Radiostation ein chronologischer Wegbegleiter: „Onkel Tobias vom Rias ist da!“ lockte schon die Kleinen vor den Apparat, dann kam der „Rias-Treffpunkt“ und die „Schlager der Woche“. Wer da nicht auf dem Laufenden war, musste doof sein oder durfte zu Hause keinen Rias hören. Geradezu legendär in seiner Lockerheit präsentierte der Sender auch nach den 1968 eingestellten „Insulanern“ die Unterhaltung: Quiz-Veranstaltungen mit Hans Rosenthal oder auch noch heute, 40 Jahre nach ihrer Erfindung, aktuelle „Klingende Sonntagsrätsel“. Seit dem Mauerfall dürfen die Hörer getrost an den Sender schreiben, vorher war das nur über Deckadresse möglich. Wer seine Lösung direkt an den Rias schickte, konnte wegen „Verbindungsaufnahme zu einer staatsfeindlichen Organisation“ belangt werden. Den großen Aufwand, die Hörerpost aus der DDR abzufangen, beschreibt der frühere Rias-Redakteur Hans-Georg Soldat: In Dresden fand ein MfS-Mann heraus, dass die Deckadressen beim Sonntagsrätsel immer aus bestimmten Gebieten im Postleitzahlenbereich Berlin 62 kamen und sich männliche und weibliche Adressaten abwechselten. Er wies die Poststellen an, alle Zuschriften nach Berlin 62 drei Tage zurückzuhalten, bis Mielkes Berliner Zentrale die Deckadressen herausgefischt und die korrekten Anschriften an die Außenstellen weitergeleitet hatte. Die Rias-Post wurde aussortiert, der Rest befördert. Wolfram Schroeder ging 1982 selbst nach West-Berlin und kam seinem Lieblingssender ganz nah – ab 1984 gestaltete er die Sendung „Sieh fern im Hörfunk“, eine klingende Programmillustrierte für das DDR-Fernsehvolk mit großer Wirkung: „Die Hörer notierten Sonntagvormittag die wichtigsten Sendungen von ARD und ZDF und gaben die Tipps an Freunde und Verwandte weiter.“

Und noch eine Sendung war ein Muss, kurz bevor die Freiheitsglocke sonntags um zwölf durch die Stube dröhnte: Die Stimme der Kritik mit dem unvergessenen Friedrich Luft, atemlos und jedermann verständlich. Der nahm uns mit in die West-Berliner Theater, zu Barlog und zu Peter Stein, zur Hoppe und zum Minetti. Dorthin, wo wir, wie es geplant war, erst ergraut und würdig als Rentner sitzen durften. Aber: Wenn „Fritze“ wieder einmal eine Inszenierung bei uns im „BE“ oder im Deutschen Theater toll fand, dann waren wir ein bisschen stolz. Komische Zeiten waren das, irgendwie.

Der Autor, Jahrgang 1934, war Reporter bei der Ost-Berliner Zeitung „Der Morgen“. Seit 1991 schreibt er für den Tagesspiegel.

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