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Stilbildend. Der 99-jährige Regisseur und Drehbuchautor Georg Stefan Troller erhält für sein Lebenswerk den Ehrenpreis des Deutschen Dokumentarfilmpreises 2021.

© imago/Wolf P. Prange

Der Wirklichkeit nicht auf der Spur: Der Dokumentarfilm fehlt im Fernsehen

Der Dokumentarfilm ist in Pandemie-Zeiten notwendiger denn je - weil er Fakten Meinungen vorzieht. Dabei darf es langsam und analytisch zugehen.

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In den ersten Jahrzehnten des deutschen Fernsehens waren Dokumentarfilme Höhepunkte im Programm. Heinz Huber und Dieter Ertel lehrten sie an der „Stuttgarter Schule“ Talenten wie Elmar Hügler und Roman Brodmann, Wilhelm Bittorf und Corinne Pulver. Beim NDR zeigten Klaus Wildenhahn (mit Gisela Tuchtenhagen) und Eberhard Fechner die Stärken dieses Formats. Vom Südwestfunk kamen die Porträts von Ebbo Demandt. Georg Stefan Troller produzierte zwischen 1972 und 1993 siebzig Personenbeschreibungen für das ZDF.

Machart und Ziel dieser Stücke orientierten sich am Direct Cinema der 1950er Jahre. Man wollte das Leben zeigen, „wie es ist“ (Robert Drew). Man fing es ein mit einer unentwegt suchenden Kamera und einem Mikrofon für jede Tonlage. Aus einer Unmenge von Bildern und Tönen wurde am Schneidetisch das Produkt „montiert“. Für die Zuschauer sah es aus wie die Wirklichkeit, authentisch, glaubwürdig, obwohl das Produkt im genauen Wortsinn ein „Mach-Werk“ war, mit dem Ziel, alles annähernd wirklich zu zeigen, mit vielen Bildern und wenigen Worten. Die ARD hat einige dieser Programme in ihre Mediathek gestellt, oft Kunststücke, ähnlich wie das „große“ Feature, das Fernsehspiel, das Hörspiel.

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Doch spätestens mit dem Start des Privatfernsehens Mitte der 1980er Jahre geriet der Dokumentarfilm unter den Druck neuer Programmziele. Ein Straßenfeger war er nie. Doch nun lag er einem Medium, das voll auf die Quote setzte, wie eine Gräte quer im Hals. Immer öfter war, wenn es um den Dokumentarfilm ging, von den üblichen Programmkillern die Rede: kein Geld, kein Programmplatz, kein Publikum. Das Doku-Drama, eine Abfolge von Realität und Fiktion, füllte die Lücke ebenso wie neue Technologien. Sie erlaubten einen unmittelbaren Zugriff auf Wirklichkeit, den man, sehr ambitioniert, Reality-TV nannte. Doch daraus wurde weniger ein Fenster zur Welt als ein Blick durch die Schlüsselllöcher. Reality-TV erzählte keine Geschichten. Es klärte nicht auf. Seine Losung hieß vielmehr: je privater und intimer, desto wirklicher! Das Ziel war nicht pure Wirklichkeit, sondern inszenierte Unterhaltung. Und als die realen Intimitäten langweilig wurden, hat man der Realität auf die Sprünge geholfen, mithilfe von Laienspielscharen, im Container in Hürth oder im australischen Dschungel. Es blieb Sat 1 vorbehalten, mit „Promis unter Palmen“ einen Höhepunkt an Tiefpunkten erzeugt zu haben.

Magazinierung der Wirklichkeit

Vor allem aber fiel der Dokumentarfilm einer medialen Magazinierung der Wirklichkeit zum Opfer. Die gängigen Stücke waren kurz. Die Macher, technologisch hoch gerüstet, kamen, sahen und sendeten für ein Publikum, dem man unterstellte, es sei nicht mehr fürs Langsame, sondern scharf auf „Brennpunkte“, auf die Kürze und das Schnelle, mit Musik aus dem Martinshorn. Man dokumentierte nicht mehr. Man akzentuierte, spitzte zu, zog Meinungen den Fakten vor. Wirklich und live wurden zu Synonymen, Langsamkeit und Bedächtigkeit galten als die Verursacher der offenbar größten Sünde eines Massenmediums – der Langeweile. „Bloß nicht langweilen!“ befindet der RBB.

Mit der Digitalisierung verschärfte sich dieser Ansatz noch einmal exponentiell. Die publizistische Trias hieß: pausenlos, atemlos, uferlos.

Als Ausweis von Realität gelten heute vor allem die O-Töne, abgefragt von Paaren und Passanten, wenn alles gezeigt und gesagt ist. Eine Art von Schnelltest auf den Gehalt an Wirklichkeit mit Menschen wie du und ich. Ihre Meinungen stehen für das wahre Wirkliche. Auf Fragen wie „Brauchen wir noch länger einen Lockdown?“ oder „Ist Schocklüftung sinnvoll?“ antworten echte Menschen. Sie authentifizieren, auch wenn sie meistens nur sagen, wovon sie denken, dass die, die sie fragen, das so auch hören wollen. Sie dokumentieren nichts. Sie erzählen schon gar nicht die Zusammenhänge, die ganze Geschichte. Sie meinen. Sie wirken wie Styropor im Weinkarton: absichernd. Doch es ist kaum Wein im Karton.

Das Langsame, das Analytische fehlt

Dabei gäbe es gerade heute Objekte, Menschen und Orte genug, deren Komplexitäten mit den Mitteln und Methoden des Dokumentarfilms angemessen gezeigt werden könnten. Nachdem die ersten Monate des Lebens mit Covid-19 von ARD und ZDF respektabel bewältigt wurden, fehlt in den Hauptprogrammen, in der Primetime je länger, je mehr genau diese Programmfarbe, diese Anstrengung und diese Machart, die eine gelungene Dokumentation auszeichnet: das Langsame, das Analytische, die Geduld, die Präzision, die mittlere Temperatur – als Ergänzung, im Zweifel auch als Kontrast zu den Formaten des Kleingehäckselten, den Infektions- und Todeszahlen, den Impfrekorden, den nicht enden wollenden Statements der unendlich vielen Vorsitzenden, dem Rätsel R-Wert, den Gerüchten über Studien, der Stippvisite im Elend einer Intensivstation, in der Enge des Home-Schooling. Dieser Zugriff auf Wirklichkeit reduziert, routiniert und vorhersehbar, eine komplexe Realität auf das stets gerade Sichtbare, oft auf Form und Länge eines Programmtrailers. Er schafft zu wenig Raum und Zeit für Einsichten.

Manchmal wirkt der Umgang mit der Pandemie im Fernsehen wie Rundfunk auf der Flucht vor der Realität, auf dem Rücksitz begleitet von den ewig gleichen Menschen, die jeden zweiten Tag zu Wort kommen. Wo sind die Stücke, die aus den überquellenden Nachrichtenportalen Geschichten machen, die zu erzählen es Zeit braucht, die bei einer Person, bei einem Thema, einem Ort lange genug bleiben, damit man verstehen kann, was wirklich geschieht? Damit man zwischen einer Inszenierung – durch Politiker, durch Experten, durch Journalisten – und der Wirklichkeit unterscheiden lernt? Wo bleibt ein Stück wie Roman Brodmanns „Die grünen Männer von Intensiv 1“? Man stelle sich vor, die Geschichte der Beschaffung von Impfstoff durch die EU würde in Ruhe erzählt, ohne Überstürzung recherchiert, in sechzig Minuten unter Vermeidung von Schnellschüssen und verbalen Standgerichtsurteilen, ausführlich, gründlich und hintergründig präsentiert, so wie kürzlich der aasige Rupert Murdoch in einem Dreiteiler der BBC.

Virologen bei der Arbeit beobachten!

Nichts gegen die dritte Staffel der Serie „Charité“! Doch interessanter als Beitrag zum Bild der Wirklichkeit wäre es derzeit, die Virologen bei ihrer eigentlichen Arbeit zu beobachten, nicht als die mal im einen, mal im anderen Kanal Interviewten mit den rastlos-ratlosen Antworten, nicht im Format der Heldengeschichte, sondern alltäglich, informativ, aufklärend. Wo bleibt die Geschichte des Gesundheitsministers, die nicht nur zeigen könnte, wo und wann er danebengelegen hat, sondern auch, was so einer seit über einem Jahr wirklich leistet? Was wirklich geschieht, erfährt man nicht in Talkshows mit Titeln, die stets mit einem Fragezeichen enden, und einem Personal, das kurz vor der Festanstellung steht.

Es gibt diese schmerzliche Lücke im Programm. Es fehlen die Mythenkiller, die das Geraune vom großen deutschen Pandemieversagen mit der Wirklichkeit konfrontieren, die dem Gerede vom föderalen Flickenteppich den Zahn ziehen, die in aller Ruhe dokumentieren, was eine Ausgangssperre jenseits von ungeprüften Behauptungen tatsächlich leisten kann. Es geht nicht um die erstbeste Antwort, es reicht schon die beste.

Es ist mühevoll, ein Fernsehprogramm unter den Bedingungen einer Pandemie zu organisieren, wenn Mobilität und Nähe massiv eingeschränkt werden. Es ist schon viel, ein Pandemiejahr lang so zu senden, dass wenigstens das Wesentliche angemessen vorkommt. Aber man könnte es sich bei allem Druck leichter machen: mit weniger Meinungen und mehr Fakten.

Kujau des Fernsehens

Doch auch postpandemisch könnte der Dokumentarfilm bei der Lösung eines der größten Probleme in der Beschreibung oder Leugnung von Wirklichkeit helfen. Der Dokumentarfilmer ist ein Experte für den Gang über den schmalen Grat zwischen Fakten und Fakes. Nicht jeder hält sich da auf den Beinen. Michael Born, der „Kujau des Fernsehens“, hat im Jahr 1994 bei 32 Produktionen Wirklichkeit nicht gezeigt, sondern inszeniert. Er hat in großem Stil getäuscht und musste dafür vier Jahre einsitzen.

Erst kürzlich ist ein Film über Prostitution, „Lovemobil“, bei dem die Regisseurin Elke Lehrenkrauss für sie unerreichbare „wirkliche“ Szenen durch Schauspieler nachspielen ließ, ins Gerede gekommen. Und gegenwärtig wehrt sich der Dokumentarfilmer Mark Wiese gegen den Fake-Vorwurf, den die „Zeit“ gegen seinen Film „Die Unbeugsamen“ erhoben hat. Das ist nichts gegen den Faker Trump. Aber der kleine Fake ist der Vater des großen. Fakes sind nichts anderes als Meinungen, die behaupten, Fakten zu sein. Ein Fake zeigt an, dass der, der ihn verbreitet, nicht weiß oder, schlimmer noch, nicht erträgt, was wirklich ist.

Der Dokumentarfilm ist, wenn er denn seine handwerklichen Regeln beachtet, der Wirklichkeit auf der Spur. Er vertilgt den Fake. Das macht ihn attraktiver denn je. Auch noch während der Pandemie. Noch bleibt Zeit genug für Dokumentationen, die an ihre besten Traditionen anknüpfen. Roman Brodmanns Dokumentarfilm „Polizeistaatsbesuch“ wurde am 26. Juli 1967 ausgestrahlt, nicht einmal zwei Monate nach diesem Ereignis.

Norbert Schneider

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