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Ernst Julius Kuhn wurde in den dreißiger Jahren als "American Führer" bekannt.

© NDR/Tangram Film München

Doku über "The American Führer": Der Selfmade-Nazi

Als "Hitlers Stellvertreter" wollte Ernst Julius Kuhn mit seiner Amerikadeutschen Bewegung die USA erobern

Stand:

Man könnte meinen, die beklemmenden Filmaufnahmen stammten vom Reichsparteitag in Nürnberg. Doch an diesem 20. Februar 1939 salutierten im Madison Square Garden 20 000 Braunhemden vor dem „American Führer“. In ihrer Dokumentation erinnert Annette Baumeister, Spezialistin für historische Themen, an einen deutschen Auswanderer, der in den USA als „Hitlers Stellvertreter" für Furore sorgte.

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Die Geschichte dieses Selfmade-Nazis kann man sich beim besten Willen nicht ausdenken. Während seines Chemiestudiums hatte Fritz Julius Kuhn Mäntel und Portemonnaies seiner Kommilitonen geklaut. Sechs Monate verbrachte deshalb im Gefängnis. Nach seiner Entlassung im Jahr 1924 bestahl er den jüdischen Bekleidungshändler Reinhold Spitz – als Dank dafür, dass er dem Vorbestraften einen Job gegeben hatte.

[„The American Führer“, ARD, Montag, 22 Uhr 50]
Spitz zeigte den Dieb nicht an. Er finanzierte ihm sogar die Ausreise nach Amerika. Und so bekam Kuhn 1927 Arbeit in Detroit bei Henry Ford, einem Antisemiten, der es duldete, dass vor den Toren seiner Autofabrik Hitlers „Mein Kampf“ verkauft wurde. Dank seinem organisatorischen Talent erklimmt Kuhn allmählich die Spitze des Amerikadeutschen Bundes, einer faschistischen Vereinigung von deutschstämmigen Amerikanern.
Auftrieb erhält die braune Bewegung durch eine soziale Komponente. So lebten deutsche Auswanderer meist beengt in amerikanischen Städten. Mit einem gut organisierten Netz von Zeltlagern ermöglichte der Amerikadeutsche Bund den Kindern erholsames Landleben. Propagandafilme zeigen, wie Jugendliche bei diesen Zusammenkünften paramilitärisch gedrillt wurden.

Eifriges Stricken an der eigenen Legende

Kuhn strickte unterdessen eifrig an seiner Legende. Angeblich marschierte er schon bei Hitlers Putschversuch im Jahr 1923 mit. Ein Foto, das ihn während der Olympischen Spiele 1936 an Hitlers Seite zeigt, steigerte seine Popularität in den USA. In Stadien sangen Tausende das Horst-Wessel-Lied.
Hitler selbst fühlte sich durch sein amerikanisches Double – das sogar Gestik und Sprechweise des Führers imitierte – durchaus geschmeichelt. Da er als Stratege aber nur zu gut wusste, dass er die Amerikaner aufgrund ihrer Wirtschaftsmacht nicht gegen sich aufbringen durfte, distanzierte er sich offiziell von Kuhn und seinen Umtrieben. Gegenwind erhielt der Mini-Hitler erst durch einen anderen Auswanderer. Unter seinem deutschen Namen Oberwinder recherchierte der Journalist John C. Metcalfe undercover im Amerikadeutschen Bund. In einer landesweit publizierten Artikelserie ließ er die Amerikaner ab September 1937 wissen, was Kuhn und seine braunen Anhänger wollen: ein antisemitisches Amerika nach deutschem Vorbild.

Mutiger Demonstrant stört

Sehenswert ist die Dokumentation auch dank eines interessanten Details. So wurde Kuhn während seiner New Yorker Rede 1939 gestört von einem mutigen Demonstranten. Es handelte sich um den jüdischen Klempnergehilfen Isadore Greenbaum, der spontan gegen Kuhns Antisemitismus aufbegehrte und daraufhin von dessen „Ordnungs-Dienst“ brutal verprügelt wurde. Tage später erschien seine Geschichte in Zeitungen. Der amerikanischen Öffentlichkeit wurde erstmals bewusst, dass Kuhns Organisation gewalttätig ist.
Amerikanische Behörden gingen nun gegen ihn vor. Nicht wegen Volksverhetzung, denn in den USA ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Kuhn hatte Gelder veruntreute und wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ohne „Führer“ verlor seine Organisation schnell an Strahlkraft. Eher beiläufig verdeutlicht die sehenswert Dokumentation: Faschisten bekämpft man am besten mit demokratischen Mitteln.

Manfred Riepe

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