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Medien: Die Unschuld vom Schwabenlande

Die ARD hat ein Dokudrama über Dieter Baumann gedreht. Die alten Kritiker befürchten Geschichtsklitterung

Von Barbara Nolte

Fangen wir mit der Szene an, die heute Abend nicht zu sehen sein wird. Der „FAZ“-Journalist Hans-Joachim Waldbröl, gespielt von August Zirner, holt Fritz Sörgel vom Bahnhof ab. Sörgel ist der Chef eines angesehenen Nürnberger Doping-Labors und Gutachter der Staatsanwaltschaft Tübingen im Fall des Langstreckenläufers Dieter Baumann. In einer Hotelbar erklärt er Waldbröl seine Theorie zu Baumanns positiven Dopingproben. Baumann sei nicht mehr in der vollen Dopingphase gewesen, als er erwischt worden sei. „Es waren Unfälle“, sagt Sörgel, „er hat gedacht, die Substanz sei schon abgebaut.“

Im März ist Fritz Sörgel extra zu den Dreharbeiten des Dieter-Baumann-Fernsehfilms der ARD nach Stuttgart gefahren. Er spielte sich selbst. „Ich hatte damals unheimlichen Stress, aber ich wollte den Film um die wissenschaftliche Perspektive ergänzen“, sagt er. Vor zwei Monaten hat der Regisseur des Films, Diethard Klante, ihm einen Brief geschrieben: Die Szene sei leider nicht mehr drin. Zeitmangel. Sörgel ist sauer. „Jetzt wird nur das Ausgetauschte-Zahnpasta-Märchen wieder erzählt.“

Um den Film über Dieter Baumann, mit dem die ARD heute Abend die Zuschauer auf Olympia einstimmen will, ist der alte Glaubenskrieg wieder ausgebrochen. Baumann, einer der größten deutschen Leichtathleten, wurde im Sommer und Herbst 1999 viermal positiv getestet. Die Dopingsubstanz fand sich ausgerechnet in seiner Zahnpasta. Es war wirklich sehr dubios. Der Fall spaltete damals die deutsche Sportszene und die beiden großen Dopinglabors des Landes. Hat er gedopt, oder war es ein Anschlag?

Die ARD hat den Stoff als so genanntes Dokudrama aufgearbeitet, wie sie gerade Mode sind. Wie Oliver Storz im vergangenen Jahr eines über Willy Brandt drehte oder Oliver Stone über John F. Kennedy. Filme, die ein wahres Skelett haben, aber auch fiktive Anteile. Klante sagt, ihn habe der Mensch Baumann interessiert: „Als typische Figur der Leistungsgesellschaft, in der alles getan wird, um Leistung zu bringen.“ Aber die Diskussion um den Film „Ich will laufen!“ ist abgedriftet: Sie ist wieder bei Norandrostendion, Nanogramm pro Milliliter, bakteriellen Verunreinigungen und Grenzwerten für die leistungssteigernde Wirkung von Dopingsubstanzen angelangt – beim alten Fachchinesisch, mit dem die Affäre damals in den Sportteilen der Zeitungen verhandelt und mit immer neuen Gutachten, Haaranalysen, Lügendetektortests befeuert wurde. Der Rest der Republik behielt davon nur drei Schlagworte im Kopf: Baumann – Zahnpasta – wird schon was dran sein.

Klante erzählt das komplizierte Argumentationsgeflecht nicht nach. Das wäre ein Quoten-Killer. Und eine offizielle Version, an die er sich halten könnte, gibt es auch vier Jahre nach der Affäre nicht. Die Polizei ist nicht weitergekommen. Ein Attentäter hat sich nicht gefunden. Klante hat Hunderte Stunden mit allen Beteiligten gesprochen: mit dem damaligen DLV-Präsidenten Helmut Digel, den Journalisten von „Süddeutscher Zeitung“ und „FAZ“, den Staatsanwälten und eben auch mit Fritz Sörgel.

Am längsten aber sprach er mit Dieter Baumann selbst, er musste ihn erst überzeugen, dem Film zuzustimmen. Sonst kann man so einen Film gar nicht machen. Baumann durfte das Drehbuch lesen. Er traf einmal Hans-Werner Meyer, sein Film-Alter-Ego, in Tübingen zum Laufen. Er habe ein bisschen das „Gemüt eines Kindes“ und einen „großartigen Humor“, lobt Meyer. Und als sie im Karlsruher Wildparkstadion die Wettkampfszenen für den Film drehten, kam Baumann vorbei und inspizierte sein eigenes Leben. Das muss eine absurde Szene gewesen sein. Selten war ein Stoff für einen biografischen Fernsehfilm so frisch. Daher die ganz Aufregung: In „Ich will laufen!“ wird die Deutung der Affäre Baumann festgeschrieben, und zwar als Anschlag.

Der Film zeigt Dieter Baumann überrascht, als er am Telefon erfährt, dass er positiv getestet wurde. In einer anderen Szene durchsucht er mit einem Mitarbeiter des Kölner Doping-Experten Schänzer sein Haus nach der Quelle der verbotenen Substanz. „Ich habe Baumann geglaubt“, sagt Schänzers Mitarbeiter anschließend zur Kripo. Baumanns sportlicher Konkurrent Stéphane Franke und das Kindermädchen der Familie wirken dagegen verschlagen und verdächtig. Es gebe aber auch Passagen, die einen „nachdenklich“ stimmten, sagt Klante. Zum Beispiel, wenn er die Frau des damaligen DLV-Präsidenten Digel über Baumann sagen lässt: „Manchmal ist die Wahrheit so schrecklich, dass man sie verdrängen muss.“ Übrigens, sagt Klante, habe er Sörgels Anschuldigungen nur rausgelassen, weil sie unstimmig gewesen seien.

Die ganze Debatte verdeckt fast, dass „Ich will laufen!“ ein sehr spannender Film geworden ist, mit einer hervorragenden Besetzung. Besonders Hans-Werner Meyer spielt den Dieter Baumann beeindruckend naturalistisch als schwäbischen Öko. Mit gefärbten Haaren und Augenbrauen sieht er ihm sogar ähnlich. Und die Castorf-Schauspielerin Sophie Rois ist in der Rolle von Baumanns Trainerin und Ehefrau Isabelle so kühl und absonderlich, wie die immer beschrieben wird.

Isabelle Baumann will sich den Film nicht ansehen. Sie war immer dagegen. Dieter Baumann kennt den Rohschnitt. „Die Szenen sind irre gut inszeniert“, sagt er. „Die Wiedererkennung war nahezu eins zu eins.“ Baumann, wie er verzweifelt durch den Wald joggt, wie er im Keller winselt: „Wenn ich meine Unschuld nicht beweisen kann, ist alles vorbei.“ Damals, sagt er, habe er sich ohnmächtig gefühlt: voller Existenzängste.

Mittlerweile ist er Sportkolumnist, gibt Laufseminare und trainiert Jugendliche. Sein Einfluss auf den Film sei begrenzt gewesen, sagt er: „Eine Szene wollte ich draußen haben. Sie ist noch drin.“ Baumann, der so unermüdlich für seine Unschuld gekämpft hat, wirkt heute gelassen: „Ich habe gelernt, dass man nur eine bestimmte Menge Leute überzeugen kann.“

Vier Jahre nach der Doping-Affäre sind die Fronten hart wie eh und je. Ob er sich vorstellen könne, fragt man den Doping-Experten Sörgel, dass er Baumann eventuell Unrecht tue. „Nein“, sagt er.

„Ich will laufen!“: 20 Uhr 15, ARD

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