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Liebe in Zeiten des Hasses. Otto Weidt (Edgar Selge) ist fast blind, aber die Attraktivität seiner Sekretärin Alice Licht (Henriette Confurius) übersieht er nicht. Foto: ARD

© NDR/Vincent TV/Beate Waetzel

TV-Erinnerungsarbeit: Ein Mensch, ein Mann

Ein Dokudrama über den Bürstenfabrikanten Otto Weidt, der in Berlin Juden rettete – und seine Liebe Alice. Der Film überzeugt, weil Weidt-Darsteller Edgar Selge überragt.

Am Anfang ist eine Postkarte, die aus einem fahrenden Zug geworfen wird. Wie groß muss der glückliche Zufall sein, dass diese, irgendwo hinter Breslau, unfrankiert neben den Bahngleisen liegend, dennoch ihr Ziel erreicht? Und doch hat Alice Licht Auschwitz nur überlebt, weil diese Postsendung ihr Ziel fand. Denn ohne diese Karte wüsste Otto Weidt in Berlin nicht, wohin der Zug fährt, in dem seine ehemalige Sekretärin sitzt.

Kai Christiansen hat „Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt“ gedreht, einen Film, der das inzwischen inflationär betriebene Genre des Dokudramas bedient. Aber das Resultat ist alles andere als Konfektionsware, es ist eine Collage aus dem eindrucksvoll-unsentimentalen Gespräch mit der Holocaust-Überlebenden und Autorin Inge Deutschkron, zeitgenössischen Dokumentaraufnahmen Berlins aus den frühen 40er Jahren und siebzig Minuten Spielfilm. Hier finden die verschiedenen filmischen Ausdrucksformen so zusammen, dass etwas überaus Ungewöhnliches entsteht: eine unerhörte Geschichte im Berlin der Nazizeit.

Otto Weidt, ein fast blinder Berliner Unternehmer, betreibt seit 1936 eine Blindenwerkstatt, in der er Bürsten und Besen im Auftrag der Wehrmacht herstellt. Weidt war in Berlin unter den zur Arbeit in der Rüstungsindustrie gezwungenen Juden eine gute Adresse. Auch Inge Deutschkron, die ebenso wenig blind war wie Alice Licht, zog es 1941 zu Weidt. Warum? Darauf hat sie eine einfache Antwort: Er behandelte alle Menschen, wie man Menschen behandelt – mit Respekt. Wie viel das ist in dieser Zeit der Herrenmensch-Grausamkeiten lässt sich kaum mehr ermessen. Und mehr noch, der fast blinde Mann um die sechzig liebt die jungen Frauen, besonders aber Alice Licht (lebenshungrig: Henriette Confurius).

Weidt weiß sofort, als er nach Zahlung eines Strafportos die Karte in Händen hält, dass von diesem Ort keine Rückkehr vorgesehen ist – und darum braucht er nicht lange für seinen Entschluss: „Ich fahre nach Auschwitz!“ Ist das Naivität oder Heldentum, oder beides? Es ist eine Geschichte, die Menschen passiert, wenn sie dem ersten Impuls folgen. Am Lagertor schickt man Weidt, der vorsichtshalber seinen Vertreterkoffer für kriegswichtige Bürsten und Besen mitgenommen hat, wieder weg. Da geht er eben in einen Gasthof und sammelt Informationen. Das kennt er aus seiner Unternehmerpraxis: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Zwar ist der regelmäßig seine Blindenwerkstatt kontrollierende Gestapo-Mann kein wirklicher Freund, aber warum soll man ihm nicht das Gefühl geben, einer zu sein?

Was ist das für ein Mensch? Inge Deutschkron sagt, ein „Hochstapler“, aber dabei ein liebenswürdiger Lebenskünstler, der besonders den Frauen gefallen wollte, einer, der allen immer das Gefühl gab, allmächtig zu sein. Und der tatsächlich unerschrocken Dinge regelte, die andere sich nicht einmal auszusprechen getraut hätten. So schützt er seine jüdischen Arbeiter mit List und Tücke, holt sie sogar aus dem Sammellager zurück.

Nichts ist schwerer künstlerisch glaubwürdig darzustellen als die Geschichte eines guten Menschen. Nur ist allerdings auch ein guter Mensch ein Mensch in seinem Widerspruch – und das zu zeigen, bedurfte es eines außergewöhnlichen Schauspielers, der jeder Versuchung zum Pathos widerstehend, die Kunst des Unterspielens auf besondere Weise beherrscht: Edgar Selge. Er vermag bedarfsweise wie einst in Helmut Dietls „Rossini“ ein Sparkassendirektor aus der Provinz oder am Hamburger Schauspielhaus Faust zu sein – und dann entdeckt man überrascht im Sparkassendirektor den Faust und im Faust den Sparkassendirektor. Derart dialektisch ausgerüstet erforscht Selge nun die seltsame, fast schon obskure Figur des Otto Weidt. Ein Minimalismus, der es in sich hat!

Ist er darum ein Held, wie es im Filmtitel unbedacht dröhnt? Mit den deutschen Helden ist es so eine Sache, niemand wusste das besser als Otto Weidt, der „seine Juden“ doch nicht alle schützen konnte – aber Alice, die er liebt, soll überleben! Eine Heldengeschichte ist das auch insofern, als es die Geschichte eines Narren ist, der sein Glück verteidigt.

„Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt“, ARD, 21 Uhr 45

Gunnar Decker

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