
© ZDF und Julia von Vietinghoff
Erste TV-Serie von Caroline Link: Atemlose Ereignislosigkeit
Die erste Fernsehserie der Oscar-Preisträgerin zeigt zwei Kinderpsychologen bei der Arbeit.
Stand:
Unser Kind, das unbekannte Wesen. Was es denkt und fühlt, sagt oder meint, ist Erziehungsberechtigten mindestens ein Rätsel und noch häufiger unergründlich, also tendenziell ein Fall für Fachleute, die Eltern mit zunehmendem Alter der Kleinen zusehends weniger sind. Während Vorschülerinnen wie Ronja wenigstens ab und zu noch berechenbar wirken, sind Teenager wie Sam schließlich durchschaubar wie Sichtbeton. Nur gut, dass es Abhilfe gibt – leibhaftige, ausgedachte, gegebenenfalls alles zugleich.
In ihrer Serie „Safe“ nämlich erfindet die Regisseurin ein kinder- und jugendpsychologisches Team, dessen Authentizität nur von der ihrer Patienten noch übertroffen wird. Kein Wunder: sie heißt Caroline Link und stellt seit ihrem Kinodebüt „Jenseits der Stille“ Heranwachsende ins Zentrum. Jetzt arbeitet die Oscar-Gewinnerin erstmals fürs Fernsehen, hat mithilfe zweier Profis eine Fiktion am Rande des Dokumentarischen verfasst. Das Resultat ist nicht nur unterhaltsam, sondern ohne Anflug von Didaktik lehrreich.
Tom und Katinka, grandios dargestellt von Carlo Ljubek und Judith Bohle, praktizieren in einer baumbestandenen Berliner Altbauvilla, wo sie zu Beginn der Serie zwei Problemfälle begrüßen: die sechsjährige Ronja (Lotte Shirin Keiling) hat eine Störung des Sozialverhaltens, das sich beim Teenager Sam (Valentin Oppermann) bereits zur Kette autoaggressiver Verhaltensweisen von Schulverweigerung bis Ladendiebstahl ausgewachsen hat. Beide leben in ihrer eigenen Welt, beide sind unberechenbar, beide passen also nicht ins erwachsene Raster. Bis jetzt.
Wie in „Jenseits der Stille“ stehen Heranwachsende im Zentrum
Denn anders als Gleichaltrige sprechen Tom und Katinka ergebnisoffen mit insgesamt vier Patienten und bringen sie so zum Denken, Fühlen, Reden, Handeln. Statt Antworten Fragen, statt Indikativ Konjunktiv – wenn Ronja ein zerknittertes Kleid im Kostümkorb beklagt, sagt Katinka ohne Satzzeichen am Ende „du willst, dass alles ordentlich ist“ und signalisiert ihr damit, gesehen zu werden, nicht durchleuchtet. Es folgt Schweigen, wie so oft. Aber es ist ein aussagekräftiges. Und der redseligen Ereignislosigkeit solcher Paarkonstellationen achtmal 45 Minuten zuzusehen, klingt womöglich ermüdend, wirkt aber äußerst erfrischend.
Wie die zwei Fachleute der Depression des siebenjährigen Jonas (Jonte Blankenberg) oder den Panikattacken der doppelt so alten Lillie (Carla Hüttermann) begegnen; wie sie den Ursachen auf den Grund gehen, ohne zu drängeln; wie sie im Rahmen einer kassenärztlich zugebilligten Stunde pro Woche therapieren, nicht infiltrieren: das ist serielles Entertainment im Grenzbereich des kreativ Möglichen und dürfte Caroline Links prallgefüllte Filmtrophäenvitrine 2023 um ein paar Fernsehpreise erweitern.
Schließlich hat sie sich schon als Schülerin in Bad Nauheim mit der „nicht-direktiven Spieltherapie“ von Virginia Axlines beschäftigt, die ein sicheres Behandlungsgelände schafft, auf dem das Publikum Caroline Link zufolge „spürt, was Therapie in Gang setzen“ könne, wie sie Kinder und Jugendliche dazu befähigt, „Finger auf ihre Wunden zu legen und sich damit selbst zu helfen“. Denn darum geht es ihr: Hilfe zur Selbsthilfe – ein Prinzip, das die Regisseurin auch am Set pflegt.
Dort stattet Caroline Link ihr junges, von Franziska Schlattners Kinderagentur perfekt gecastetes Personal eher mit Gesprächsfäden als Dialogen aus, an denen sie es wie Marionetten durch den Raum führt, die Leinen aber dennoch lang lässt. Was paradox klingt, schafft Atmosphären, die in aller Stille Atemlosigkeit erzeugen und auch Erziehungsberechtigten Spiegel vorhalten. Im Gegensatz zur aasigen „Herz-für-Kinder-Empathie-Industrie“, die der Wertschöpfungskette am Ende nur kulleräugige Glieder hinzufügt, geht es „Safe“ also tatsächlich ums Wohlergehen Jugendlicher.
Dass die Autorin zwischen zwei Sitzungen stets auf Nebenschauplätze ausweicht, Katinkas toxische Beziehung zum verheirateten Michael (Christian Erdmann) etwa oder Toms porösen Draht zur Tochter (Ella Lee), dient da als Pufferzone intensiver Zwiegespräche, die Komponist Niki Reiser leise mit Piano füllt. Nur nicht vom Kern ablenken, ob hilfreich oder nicht. „Ihr mit euren Rezepten“, sagt Hanna, als Tom erzählt, wie er ihr schlechte Gedanken einst auf Zettel gekritzelt und verbrannt hat, „als ob’s immer so einfach wäre“. Nein, einfach ist es nicht. Aber sensationelles Fernsehen. „Safe“, ZDFneo, achtmal 45 Minuten, dienstags und mittwochs ab 20 Uhr 15 in Doppelfolgen
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