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Medien: Hinter deutschen Gardinen

Welches Verhältnis hat unser Fernsehen zur Geschichte? Im besten Falle könnte dieses Medium ja so etwas wie eine audiovisuelle Maschine sein, die Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis und dem kollektiven Bewusstsein und Unterbewusstsein holt, um die offizielle Geschichtsschreibung zu korrigieren.

Welches Verhältnis hat unser Fernsehen zur Geschichte? Im besten Falle könnte dieses Medium ja so etwas wie eine audiovisuelle Maschine sein, die Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis und dem kollektiven Bewusstsein und Unterbewusstsein holt, um die offizielle Geschichtsschreibung zu korrigieren. Geschichte in Bildern, die zwar mehrdeutig sein können, aber eben auch niemandem so eindeutig gehören. Geschichte von unten, oder wenigstens: Geschichte aus der mehr oder weniger breiten Mitte. Vor der langen Geschichte des Abendlandes gab es die "oral history", die wir mit Mühe wiederentdeckt haben. Wäre nun, in der Postmoderne, nicht so etwas wie eine mediale Geschichtschreibung, eine "audiovisual history" dran?

Aber ach, viel Raum für Hoffnung hat unser Fernsehen da nicht geschaffen. Das Problem ist wohl, dass die Bilder des Fernsehens vor allem erst einmal dazu dienen, die Situation des Zuschauers zu spiegeln, ganz direkt: die Art, in der er lebt, seine Familie, seine Wohnung, seinen Tagesablauf, sogar seine Weisen, auf das Fernsehprogramm zu schimpfen. Kurzum: seine Gegenwart zu bestätigen.

Noch das Kino erzählt Geschichten, das Fernsehen aber zeigt in erster Linie Gesichter. Was sich nicht in der Intimität von Halbnah- und Naheinstellungen zeigen lässt, davon bekommen das Fernsehen und seine Zuschauer nicht viel mit. Der "weite Blick" ist für das Fernsehen eine Anmaßung. Früher war das auch eine technische Frage, heute ist es in der Tat eine Frage der Einstellung. Wenn wir uns einen unserer mittleren Events wie die "Semmelings" ansehen, reagieren wir eher verärgert auf die filmischen Spielereien, mit denen ein Regisseur wie Dieter Wedel immer mal wieder den gewohnten Rahmen überschreiten will, als müsse er damit seine unverhältnismäßigen Produktionsmittel rechtfertigen.

Dabei ahnen wir doch: Wenn das Fernsehen "unser" Medium sein soll, das Medium der Kleinbürger und der Familie (oder das Medium dessen, was in allen Menschen kleinbürgerlich und familiär sein will), dann muss es "Geschichte" nicht nur auf unser kleinbürgerliches und familiäres Maß zurückführen, es muss im Wesentlichen auch ein armes, nein, sagen wir: ein "preiswertes" Medium sein. What You See Is What You Get. Deshalb verhalten sich die Menschen des Fernsehens beinahe immer gleich, egal ob sie im Wilden Westen auf der Ponderosa, im Weltraum mit Captain Kirk, in Afrika mit einem schielenden Löwen oder als Nachwuchspolizisten in Wanne-Eickel unterwegs sind. An die Stelle von gesellschaftlichen Perspektiven treten die "beliebten Fernsehgesichter": Die Antwort auf den historischen Konflikt von Kapital und Arbeit ist Mario Adorf; die Antwort auf den Konflikt zwischen Neoliberalismus und Bürgermoral ist Robert Atzorn; die Antwort auf den Konflikt von Geschlecht und Klasse ist Heike Makatsch.

In diesem sich selbst verbrauchenden, in sich selber kreisenden Medium muss der Widerspruch zwischen Alltag und Geschichte aufbrechen. Ist nicht Geschichte, die den Alltag ignoriert, abstrakt und elitär? Und ist nicht umgekehrt die Besessenheit vom Alltäglichen der beste Weg in Beschränkung und Krähwinkelei? Die Bildermaschine hat da zumindest eine klare Erzähllinie gefunden: Geschichte ist das, was wir sehen, wenn wir durch die Schlüssellöcher der Nebenzimmer der Macht gucken, und das, was sich im Spiegel der Familie sehen lässt.

"Die Semmelings" wird vermutlich einmal als Lehrbeispiel dafür zu dienen haben, wie man es macht, wenn man sich allenfalls um Einschaltquoten, aber mit keinem Gedanken um das zu kümmern bereit ist, was zwischen Geschichte und Alltag an Bildern herzustellen und zu vertreten wäre. Es ist ein Lehrbeispiel dafür, wie man nicht nur politisches Bewusstsein, sondern überhaupt jede Idee von Geschichte durch mehr oder weniger totales Fernsehen vernichtet. Alles geht durcheinander in dieser Mischung aus Politkrimi, Familiengeschichte und Pseudo-Enthüllungsgeschichte, bei der man nie genau weiß, wo die Grenze zwischen der angezielten Satire und unfreiwilligem Humor verläuft. Und zugleich kommt auch alles mit einer vorher berechenbaren Konsequenz daher, so als hätte sich diese Serie eine hübsch paradoxe Konstruktion zu Eigen gemacht: Das Fernsehen zeigt die Wirklichkeit als wäre sie wie Fernsehen, nur noch ein bisschen schlimmer.

Aber all das hat seinerseits eine Geschichte. Das Fernsehen hat zu einem großen Teil die Erschaffung eines neuen Mittelstandes in der Wirtschaftswundergesellschaft ermöglicht, der in diesem Medium Bilder und Geschichten hatte, die die Vergangenheit aufbewahrt und abgelegt hatten. Von Aufstiegsträumen und Abstiegssorgen geplagt war der Widerspruch von Genuss und Verlässlichkeit zu lösen, und dafür gab es zwei Medien, die Familie und das Fernsehen. Sie sollten, in allen Stadien von Zerfall und Renaissance, über fünfzig Jahre lang zur Konstruktion von "Wirklichkeit" ausreichen. Geschichte wurde trivialisiert und in gewisser Weise ausgeblendet wie, sagen wir, in dem frühen Fernseherfolg "So weit die Füße tragen", wo Faschismus und Krieg zu verschwinden hatten im Wunsch eines deutschen Menschen, nach Hause zu kommen. Das Fernsehen war das Medium des Nachhausekommens, und Geschichte, so weit sie "gemacht" und erlitten war, muss dagegen zum bösen Draußen werden.

Aber die Geschichte von unten wurde ja auch in einer anderen Weise geschrieben, vielleicht "subversiv" hier und da, vor allem in der Form der Familienserien. Zunächst schienen zumindest die besseren dieser Serien so etwas wie eine Fortsetzung der literarischen Chroniken, eine neue Art von Dickens, Balzac, Zola. So sahen Serien wie "Die Unverbesserlichen" denn auch die Familie zugleich als Träger und als Opfer der Geschichte, ohne die geringste Chance, jemals zu ihrem Subjekt zu werden. Das Schicksal konnte man zu dieser Zeit getrost als "die Verhältnisse" betrachten. In den siebziger Jahren konnten wir Gemeinderätinnen, Bahnhofsmissionen und Sozialarbeitern dabei zusehen, wie sie versuchten, die Brüche der Gesellschaft und ihrer Geschichte zu reparieren, in den achtziger Jahren waren dazu schon wieder Pfarrer, Lehrer und Ärzte nötig. In den neunziger Jahren waren es Menschen der Tat, die aber zu viel damit zu tun hatten, gut und fit auszusehen, als dass sie ernsthaft hätten Geschichte akzeptieren können.

Geschichte ist die endlose Wiederholung der Geschichte des Menschen, der in seinen Verhältnissen aufsteigen und, so oder so, gut sein möchte, und dann wieder absinkt. Natürlich ist das genau die Alltagserfahrung, die jeder von uns hat, wenngleich sich das in der Regel etwas zäher, etwas unsichtbarer abspielt als im Fernsehen. In dieser Endlosschleife von Ambition und Enttäuschung steckt auch die Tücke des Leitmediums. Es zeigt nicht Geschichte, es zeigt das Scheitern das Menschen an ihr. Und es kann nichts anderes anbieten als den Rückzug in die letzte Bastion, die Familie. Nicht dass diese "ideal" wäre, wie noch in den fünfziger Jahren, ganz im Gegenteil, sie hat nur die fatale Eigenschaft, das Einzige zu sein, was bleibt. Daher bringt die "Lindenstraße" die Menschen nicht mehr zu Politik und Geschichte, sondern sie bringt Politik und Geschichte umgekehrt in die Familie, und sei es in Form "echter" Politiker und "echter" Ereignisse der Zeitgeschichte (wie die Diskussion von Wahlergebnissen in Realzeit).

Aber ist nicht Geschichte von unten schon immer eine Geschichte in Bildern gewesen? War nicht die Karikatur auf dem Flugblatt immer noch das probatere Mittel gegenüber dem Gegen-Text und der Theorie? Und ist nicht das Fernsehen ein Medium, das zu nichts so begnadet ist wie zur Karikatur? Alles an den "Semmelings" ist Übertreibung und Karikatur, aber nichts ist Satire. Und alles zielt auf etwas ab, was nicht bloß naive Vereinfachung und hemmungslose Personalisierung ist, sondern eben genau diesen Blick aus der gesellschaftlichen Mitte aufnimmt, der bereits an der Haustür die Welt als exotisch und fremd ansieht. Dabei tut sich für das Fernsehen ein weiteres Gegensatzpaar auf, das von Geschichte und Erfahrung. Unser Blick trifft hier ja nicht auf ein Bild, das es zu lesen und zu erforschen gälte, sondern auf das der seriellen Wiederkehr. Man sieht, was man schon immer gesehen hat, man erfährt nur, was man schon weiß.

Eine merkwürdige Erzählweise entwickelt sich, eine symbiotische Detailgenauigkeit (kein "Realismus" deswegen), eine liebevolle Ausgestaltung, ja Überfüllung der familiären Räume, eine Vergröberung, Verzerrung und Verallgemeinerung dagegen, wo es um den öffentlichen Raum, die Geschichte, die Politik geht. So erzählt das Fernsehen viel weniger von unten nach oben als von innen nach außen. Es verklärt den Innenraum der Familie und dämonisiert den öffentlichen Raum. Vielleicht erklärt das, warum "Die Semmelings" funktionieren, als wären sie die Fortsetzung von "Diese Drombuschs" mit einem Schuss "Dallas": Die strikte Trennung zwischen Familie und öffentlichem Raum kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Grenzen verlaufen nun willkürlich durch die einzelnen Familien und sogar die einzelnen Individuen. Die Klischees lösen sich dabei nicht auf, im Gegenteil: Sie laufen Amok.

Georg Sesslen

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