
© Sky/Constantin
Sky-Doku über die Todesschüsse vom Münchener OEZ: Menetekel des Terrors
Der Sky-Vierteiler „22. Juli – Die Schüsse von München“ erinnert an den rechtsradikalen Amoklauf vom OEZ, der keiner sein durfte.
Stand:
Sachfilme großer Kriminalfälle folgen meist einer festgefügten Dramaturgie. Chronologisch wandern sie vom Tat- und Ermittlungsort in die Biografien der Opfer und Täter, um mithilfe passender Zeitzeugen vor Gericht zu landen, wo Schuldsprüche ergehen oder halt keine, was dann Anlass rechtsphilosophischer Gedankenspiele sein kann oder eben nicht. So beginnen folglich auch „Die Schüsse von München“ als dokumentarische Aufbereitung des folgenreichsten rechtsradikalen Anschlags seit jenem aufs Oktoberfest knapp 36 Jahre zuvor.
Am 22. Juli 2016 um 18 Uhr 03 rauschten erste Tweets durch das Internet: Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum, kurz OEZ – ein Kürzel, das fortan mit Deutschlands Terrorgeschichte verbunden ist wie NSU, RAF, GSG9. Sechs Jahre ist es am Freitag her, dass der 18-jährige Deutsch-Iraner Ali Sonboly in Bayerns Landeshauptstadt gezielt Menschen mit Migrationsvordergrund erschossen, vielmehr: exekutiert hat. Ein Terrorakt mit eigenem Wikipedia-Eintrag, und wer entsinnt sich nicht der aufwühlenden acht Stunden vor Bildschirmen jeder Art?
[„22. Juli – Die Schüsse von München“, Sky, ab Freitag]
Gebannt starrten Großteile der Bevölkerung zugleich auf Smartphone und Fernseher und fürchteten sich vor Pariser Verhältnissen. Acht Monate zuvor hatten Islamisten 130 Menschen getötet, 683 weitere verletzt und damit zwar die halbe Welt in Schockstarre versetzt, nicht aber die sozialen Netzwerke, in denen sich flugs das Märchen verbreitete, in München geschehe nun dasselbe. Von dieser Fehleinschätzung berichtet „22. Juli“ viermal 45 Minuten – ein ebenso kluges wie spannendes Stück Fernsehen.
Gemeinsam mit dem lokalen Polizeireporter Martin Bernstein hilft Regisseur Johannes Preuss dem kollektiven Gedächtnis aber nicht nur chronistenpflichtig auf die Sprünge; bei der Aufarbeitung dieser jungen Narbe im kollektiven Gedächtnis sortiert er das Chaos jener Julinacht mitunter neu. Als Ali Sonboly am Nachmittag des titelgebenden Datums neun OEZ-Besucher erschossen hat und fünf verletzt, geraten nämlich sämtliche Medien im Sog der IS-Anschläge von Paris und Nizza außer Rand und Band.
Aus Verdächtigen werden Täter
Obwohl der Einzeltäter keine drei Stunden nach der Tat bereits tot aufgefunden wurde, durchsuchen auch danach noch 2300 Polizeibeamte die Region nach Komplizen. Kein Wunder: Preuß und Bernstein lassen auf einer virtuellen Karte 73 Orte bis Dachau aufpoppen, an denen Schüsse, Tote, Terror gemeldet wurden. Als Münchens Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins noch früh am Abend öffentlich mutmaßt, er gehe „von bis zu drei flüchtigen Tatverdächtigen“ aus, schneidet die Regie auf einen Netzreporter, der daraus „die Fahndung nach bisher drei Tätern läuft auf Hochtouren“ macht.
Twitter, Instagram, Facebook laufen über vor Falschmeldungen. Und als ein Video viral geht, auf dem bewaffnete Polizisten Kopftuchträgerinnen vor einem Schuhladen in Schach halten, nimmt auch das Märchen religiöser Motive von Social Media befeuert Fahrt auf.
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Diese Eskalationsspirale fasst Sky nun ebenso fesselnd wie präzise zusammen. Zum Glück jedoch verlassen die zwei Filmemacher dabei die ausgetretenen Pfade auf dem Weg zur dokumentarischen Erkenntnis. Das zeigt sich einerseits in einer Ästhetik, die ganz auf Informationen und wenig auf Effekte setzt. Andererseits an einer Schwerpunktsetzung jenseits der üblichen Verdächtigen. Während zwei der vier Teile das Geschehen mithilfe sachkundiger Talking Heads vom Spitzenpolitiker bis zum Täterfreund rekonstruieren und somit das Bild eines gemobbten Neonazis verdichten, der seine Profilneurosen im Stil des Rechtsterroristen Anders Brejvik besiegen wollte, kümmern sich die anderen um Sonbolys rechtsextremes Gesinnungsnetzwerk oder warum Bayerns Entscheidungsträger jahrelang an der Lüge vom geistig verwirrten Einzeltäter festhielten. Und spätestens hier lässt das Format ein paar festgefügte Handlungsstränge branchentypischer True Crime hinter sich, die sie zwar zu Publikumsmagneten, aber auch stereotyp und öde machen.
Zum Ende der Schilderung von Opfern und Tätern, also unmittelbar Beteiligten rückt nämlich ein gewisser Philipp K., genannt Rico, in den Fokus, bei dem Ali S., genannt David seine Tatwaffe ersteigert hatte. Spätestens hier zweigt „22. Juli“ vom Mainsteam üblicher Kriminalfall-Historisierungen in ein paar Seitenarme soziokulturell bedeutsamer Milieustudien ab und zeigt, was „Die Schüsse von München“ sind: Ein Menetekel für alles, was uns im rechtsextremen Dunstkreis noch blühen könnte.
Jan Freitag
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