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Selbstbewusst. Kirill Serebrennikov stand fast zwei Jahre unter Hausarrest, was die künstlerische Produktivität des Regisseurs aber nicht unterdrücken konnte. Foto: Ina Polyarnava

© Ina Polyarnava

Dokumentation über Kirill Serebrennikov: Provokation des Progressiven

Arte-Doku: Kirill Serebrennikov oder die Frage nach Kunst und Macht in Russland.

Von August 2017 bis April 2019 stand Kirill Serebrennikov in Moskau unter Hausarrest. Das hinderte den international renommierten Regisseur nicht daran, vom Schreibtisch aus Opern in Zürich und Hamburg zu inszenieren. Und zwar ohne Telefon und Internet.

Katja Fedulova, Dokumentaristin mit Fokus auf postsowjetische Themen, porträtiert für Arte den 49-Jährigen vor dem Hintergrund jener kurzen Blüte der Kunstfreiheit in Russland, die sich in einer erstaunlich progressiven Kulturpolitik niederschlug. So erklärte der damalige Staatspräsident Dmitri Medwedew 2009 in einer Ansprache vor der Nationalversammlung: „Wir müssen unsere Aufmerksamkeit darauf richten, innovative und experimentelle Kunstrichtungen zu unterstützen.“

In diesen Zeitraum fällt auch der kometenhafte Aufstieg des 1969 geborenen Theatermenschen Serebrennikov. Seine Mutter riet ihm zu einem Job in der Rüstungsindustrie. Doch nach einem abgebrochenen Physikstudium widmete er sich der Bühne, zu deren Ausdrucksformen der junge Autodidakt instinktiven Zugang hatte. Der Durchbruch gelang ihm mit der Inszenierung von Wassilij Sigarews Skandalstück „Plastilin“, das er an einer kleinen Bühne, dem Moskauer Zentrum für Dramaturgie, inszenierte.

Startschuss für die Theaterszene

Anfang der 2000er Jahre, als die großen Theater Russlands sich an keine zeitgenössischen Stücke mehr heranwagten, sorgte der junge Wilde für eine Sensation. Seine freche, gegenwartsbezogene Inszenierung war ein Startschuss für die gesamte Theaterszene. Der Bilderstürmer wird bald zum Chef des Moskauer Gogol-Zentrums ernannt, von wo aus er das angestaubte russische Theater aufmischte. Rasch sorgte er über die Landesgrenzen hinaus für Furore. Kinofilme wie „Der die Zeichen liest“ und zuletzt „Leto“ steigerten seine internationale Popularität. Mit aussagekräftigen Filmausschnitten und differenziert kommentierten Filmdokumenten seiner Theaterarbeiten führt die Dokumentation das enorme Spektrum Serebrennikovs vor Augen.

Da der Avantgarde-Regisseur auch in Russland als kulturelles Aushängeschild gilt, überraschte es umso mehr, dass er 2017 plötzlich vor Gericht stand. Der Vorwurf, er habe umgerechnet 1,8 Millionen Euro Fördergelder veruntreut, ist fadenscheinig. Warum also soll ein Theatermacher kalt gestellt werden, der sich politisch nie weit aus dem Fenster lehnte, sich nicht als Dissident sieht und in seinem Land wie ein Rockstar verehrt wird?

Die Dokumentation gibt eine indirekte Antwort. Sie zeichnet nach, wie seit der Wiederwahl Putins im Jahr 2012 im Kreml konservative Kräfte die Oberhand bekamen. Im selben Jahr attackierten die Pussy-Riot-Aktivistinnen jene religiöse Orthodoxie, die in Russland als ein „wesentlicher Garant für den Zusammenhalt der Gesellschaft“ angesehen wird. Die Aktion der regierungskritischen Feministinnen zog eine drastische Verschärfung der Kulturpolitik nach sich. Wohl aus diesem Grund wurde auch die Premiere von Serebrennikovs Ballettinszenierung „Nurejew“ im Jahr 2017 mehrfach verschoben. Das Stück über den berühmten bisexuellen Tänzer, der sich in den Westen abgesetzt hatte, mache laut Kulturminister Medinski „Propaganda für nicht traditionelle Sexualbeziehungen“.

Spielball der Mächtigen

Nach Ansicht der russischen Theaterkritikerin Marina Davydova ist Serebrennikov zum Spielball der Mächtigen geworden: „Es kann passieren, dass man bei Konflikten innerhalb der Machteliten von einer Seite dazu benutzt wird, dem Gegner die eigene Macht zu demonstrieren.“ Fedulova gelingt ein vielstimmiger Film, der die diffuse Gemengelage zwischen dem Theater und den Wirren russischer Kulturpolitik ausleuchtet.

„Kirill Serebrennikov, Kunst und Macht in Russland“, Arte, Mittwoch, 22 Uhr 10

Manfred Riepe

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