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Hürriyet

© Repro: Tsp

Zeitungsmarkt: Titel, Türken, Temperamente

Warum Migranten Zeitungen lieber in ihrer Muttersprache lesen. Ein Redaktionsbesuch bei „Hürriyet“.

Ali Varli, Reporter der türkischen Zeitung „Hürriyet“, sitzt im Wohnzimmer von Familie Sarikurt. Der Journalist redet beruhigend auf die Gastgeber ein: „Mit der U-Bahn kann er nicht weit sein, da wird dauernd kontrolliert.“ Ein Informant hat dem 37-Jährigen vor zwei Stunden mitgeteilt, dass sich in Kreuzberg ein „Familiendrama“ ereignet. Herr und Frau Sarikurt vermissen seit einem Tag ihren taubstummen Sohn. „Verstehen Sie, Mehmet ist behindert“, sagt die Mutter. Der 18-Jährige sei schon einmal weggelaufen und mit der U-Bahn „in den Westen“ gefahren. „Schreiben Sie das!“

Es ist eine typische Geschichte für Deutschlands größte türkische Zeitung. Die „Hürriyet“ (zu Deutsch „Freiheit“) lebt davon, dass sie sich um die großen und kleinen Belange ihrer Leser kümmert. Vermisste Kinder in Berlin-Kreuzberg oder Parkplatzprobleme türkischer Ladenbesitzer in Köln-Ehrenfeld gehören ebenso dazu, wie die Diskussion um den Doppelpass für Türken in Deutschland. Die Boulevardzeitung besteht aus 32 Seiten mit Nachrichten und Bildern aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur. Leicht bekleidete Damen finden sich erst auf der letzten Seite.

40.000 verkaufte Exemplare

Demokratie und Laizismus – die Trennung von Staat und Religion – sind laut eigenen Angaben die zentralen Werte der „Hürriyet“. Die 1946 gegründete Zeitung bekennt sich mit ihrem Logo immer noch zum Staatsgründer Kemal Atatürk. Das konservative Massenblatt ist heute die drittgrößte Zeitung in der Türkei. Die Deutschland-Ausgabe der „Hürriyet“ will sowohl die ältere Generation erreichen wie auch ihre Kinder. „Unsere Zeitung wird für alle gemacht“, erklärt Reporter Varli. Bereits 1965, vier Jahre nachdem die ersten türkischen Gastarbeiter an deutschen Fließbändern arbeiteten, gab die „Hürriyet“ eine Ausgabe in Deutschland heraus. Die Zeitung ist inzwischen das türkische Leitmedium in Europa und mit einer Auflage von etwa 40.000 verkauften Exemplaren das größte türkischsprachige Blatt in Deutschland. Die Zeitung selbst geht von einem „weitesten Leserkreis“ von 700.000 aus.

Bisher wusste man in Deutschland überhaupt nicht, welche Medien von Migranten genutzt werden. Doch vergangene Woche legten die Fernsehanstalten ARD und ZDF zum ersten Mal eine bundesweite Studie dazu vor. Sie bestätigt, dass türkische Einwanderer und ihre Nachkommen am häufigsten Zeitungen in ihrer Muttersprache nutzen. Laut „Migranten und Medien 2007“ gaben 38 Prozent der türkischstämmigen Befragten an, regelmäßig oder gelegentlich türkische Zeitungen zu lesen.

So hat sich eine rege türkische Presselandschaft neben den deutschen Medien etabliert: Es gibt sechs türkischsprachige Zeitungen mit einer eigenständigen Deutschlandausgabe. Außer „Hürriyet“ findet man an den meisten Kreuzberger Kiosken auch die linksliberale „Milliyet“, die intellektuell islamische „Zaman“, die Boulevardblätter „Sabah“ und „Türkiye“ und die Fußballzeitung „Fanatik“.

Redaktionszentrale in Hessen

Die „Hürriyet“ wird nicht – wie gemeinhin angenommen – in der Türkei produziert. Die Ausgabe für Europa hat eine redaktionelle Zentrale in Hessen, die für die deutschen Nachrichten verantwortlich ist. Ali Varli und seine fünf Kollegen aus dem Berliner Büro der „Hürriyet“ schicken ihre Textvorschläge täglich nach Mörfelden-Waldorf. Hier, in einem abgelegenen Industriegebiet, werden die Nachrichten gemacht, die die Türken in Deutschland bewegen. Die Titelseite und mindestens vier Seiten im Innenteil sind komplett „Made in Germany“. Die Lokalbüros liefern jede Woche zusätzliche Seiten für Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hamburg. Die Nachrichten der deutschen „Hürriyet“ stammen nicht nur von Korrespondenten aus Deutschland, sondern auch aus Frankreich, den Niederlanden und anderen Ländern. Die Berichte aus Deutschland überwiegen jedoch. Kein Wunder: hier leben mit 2,5 Millionen die meisten türkischstämmigen Menschen außerhalb der Türkei.

Seit 2000 gehört die „Hürriyet“ dem größten Medienkonzern der Türkei „Dogan Media Group“ (DGM). In Deutschland publiziert die DGM die beiden auflagenstärksten Zeitungen „Hürriyet“ und „Milliyet“, dazu kommen die Fernsehsender Euro D und Euro-Star. Ex-Kanzler Gerhard Schröder nutzte diese von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte Medienmacht als einer der ersten Politiker. Er stattete dem großen Verlagshaus im Wahlkampf 2005 einen Besuch ab und betonte, dass er den EU-Beitritt der Türkei befürworte. Auch der Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann, pflegt seit Jahren gute Beziehungen zum Dogan-Verlag. Die Zeitung „Hürriyet“ wird in Deutschland über Springer vertrieben und Diekmann sitzt im Beirat des Blattes.

Auf Integrations-Debatte reagiert

Immer lauter werden die Stimmen in Deutschland, die von den türkischen Medien fordern, die Integration ihrer Landsleute voranzutreiben. Die „Hürriyet“ hat reagiert: Seit 2005 läuft die Kampagne „Gegen häusliche Gewalt“ an Frauen. Sie wird von deutschen Politikern gerne als „vorbildlich“ bezeichnet. Seit etwa einem Jahr wird die Zeitung mit Kerem Caliskan von einem neuen und weniger polarisierenden Chef für die Europa-Ausgabe geführt. Und seit April 2007 hat das türkische Leitmedium vier Jugendseiten in deutscher Sprache.

Bis vor wenigen Jahren wurde „Hürriyet“ noch Kampagnenjournalismus nachgesagt. Sie griff den Grünen-Politiker Cem Özdemir wegen seinen türkeikritischen Äußerungen so stark an, dass er gegen die Zeitung vor Gericht zog. Auch die Berliner Herbert-Hoover-Schule kam erst durch die einseitige Berichterstattung der „Hürriyet“ deutschlandweit in die Schlagzeilen: Auf ihrem Schulhof sollte nur noch Deutsch gesprochen werdengebot auf dem Schulhof legte die Zeitung als „Verbot der Muttersprache“ aus. „Unsere Kinder müssen Türkisch sprechen dürfen“, zitierte sie wochenlang empörte Eltern.

Zurück im Kreuzberger Wohnzimmer. „Hürriyet“-Reporter Ali Varli hat sein Interview beendet. Für seinen Artikel fotografiert er die besorgten Eltern, indem er Mann und Frau auf dem Sofa drapiert. Sie halten je ein Foto des vermissten Jungen in der Hand und lassen die Mundwinkel hängen. In der Samstagsausgabe steht darüber in dicken Buchstaben: „Hat jemand Mehmet gesehen?“ Und tatsächlich: Ein türkischer Arzt aus Frankfurt (Oder) meldet sich wenige Tagen später bei der Familie. Mehmet liege in dem Krankenhaus, in dem er arbeitet. Er hat sein Bild in „Hürriyet“ erkannt.

Ferda Ataman

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