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Medien: Übermut der Ämter

Tatsachen-Film, passend zu Pisa: Wenn Sozialarbeiter Familien trennen

Es wird nicht ganz klar, was es für eine Behinderung ist, mit der Herr und Frau Kaminski zu leben haben. Früher, das heißt in Zeiten vor der Political Correctness, hätte man gesagt: Die beiden sind ein bisschen dumm, besser: einfältig. Dabei hätte man es bewenden lassen. Martin und Petra Kaminski sind liebe, nette Menschen. Sie reden seltsam. Statt „Was man nicht weiß“, sagt Martin: „Was man nicht wissen tut.“ Aber sie kommen klar. Er schafft auf dem Bau, sie verdient in Heimarbeit dazu. Tochter Lona ist fünf und geht in den Kindergarten. Dort fällt auf, dass sie wenig weiß. Der Arzt meint, das Mädchen sei zurückgeblieben, schlägt eine Frühförderung vor. Die Eltern sollten einen Antrag stellen. Unglücklicherweise befolgen sie den Rat.

Jetzt kommt eine Spirale bürokratischer Überheblichkeit in Gang, wie sie empörender nicht sein könnte. Lona und ihre Eltern geraten unter die Beobachtung einer „Familienhelferin“. Solche Fachkräfte sollen in schwachen Milieus Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern verhüten. Die Helferin der Kaminskis legt Beschränktheit als Charakterlosigkeit aus. Sie glaubt Lona vor Vater und Mutter schützen zu müssen, weil die Eltern keine intellektuelle Anregung zu geben vermögen. Sie erkennt nicht, wie herzlich die drei einander zugetan sind und dass die Grundbedingung jeder kindlichen Entwicklung, elterliche Liebe, gegeben ist. Es gelingt der Sozialarbeiterin, den Eltern das „Aufenthaltsbestimmungsrecht“ zu entziehen. Eine Prozesswelle rollt an. Kaminskis verlieren vorm Bundesverfassungsgericht.

Der Zuschauer, der sich mal einen netten Familienfilm reinziehen will, wähnt sich plötzlich in einer Dokumentation, zumal die Handlung einem wahren Fall nachempfunden ist. Immer wieder rutscht er auf seinem Fernsehsofa hin und her, stöhnt: Das darf nicht wahr sein! Sind wir hier in Deutschland zu einer herzlos-mechanischen Förder-Republik verkommen, in der das Glück der Menschen einseitig an Schulnoten gebunden wird? Der so genannte Pisa-Schock ließ ja das Schlimmste befürchten. Haben doch quer durch die Nation nicht nur Bildungsexperten, sondern selbst Eltern und Kinder den ganzen Zirkus ernst genommen und vor lauter Sorgen um das intellektuelle Niveau des Landes die wichtigste Voraussetzung dieses Niveaus vergessen: Spaß an der Freud. Ein Kind, das sich nicht gut aufgehoben fühlt, lernt auch nichts. Außer, wie es sich gegen seine Erzieher zur Wehr setzt.

Die kleine Lona hat noch Glück im Unglück. Sie gerät an eine Pflegefamilie, die sich liebevoll kümmert, auch den Kontakt zu den leiblichen Eltern nicht scheut. Diese begreifen nicht, was ihnen widerfahren ist und schöpfen erst wieder Hoffnung, als eine engagierte Anwältin sich ihrer annimmt. Nun folgt vor Gericht eine Niederlage auf die nächste. Die Kaminskis reden sich sogar ein, dass die Tochter es jetzt vielleicht besser hat – obwohl doch die neuen Eltern gar nicht wissen, „was Lona gerne essen tut“. Auch die Anwältin ist kurz davor, aufzugeben. Aber dann besinnt sie sich auf die letzte Instanz: den Europäischen Gerichtshof.

Es spricht nicht gegen diesen gradlinig erzählten, sensibel inszenierten Film (Regie: Stephan Wagner), dass man seine fiktive Handlung für wahre Münze nimmt und an den „echten“ Fall denkt, der ihm zugrunde liegt. Diese Geschichte soll die Fragwürdigkeit all der Förderprogramme offenbaren. Herzlichkeit kann man nicht messen, deshalb gilt sie nichts. Intelligenz aber hat einen Quotienten, sie zählt im Leben, und Eltern, die ihre Kids angeblich nicht schlau genug machen, müssen um das Sorgerecht bangen. Dass es dazu kommen kann, dass Jugendämter ein Kind von seinen Eltern trennen dürfen, weil dessen „Entwicklungsrückstand auf das intellektuelle Niveau seiner Eltern zurückzuführen“ sei, ist ein Skandal.

Die schauspielerischen Leistungen von Matthias Brandt als Vater und Juliane Köhler als Mutter Kaminski sind außerordentlich. Weit entfernt davon, die schlichten Gemüter, die sie darzustellen haben, an die Karikatur zu verraten, verleihen beide ihren von Demütigungen gezeichneten Figuren tragische Dimension. Anneke Kim Sarnau hält die tapfere Anwältin frei von plakativem Heldentum; auch sie schüttelt immer wieder den Kopf über die Umtriebe der Sozialbürokratie. Sie können einem im wirklichen Leben ja manchmal leid tun, die Jugendämter und Sozialarbeiter, weil sie immer die Schuld kriegen, wenn in ihrem Bereich ein Kind verwahrlost. Damit müssen sie leben, das ist der Fluch des Jobs. Übereifer, so viel lehrt dieser Film, ist weitaus schlimmer.

„In Sachen Kaminski“, Arte,

20 Uhr 40

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