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„Joe vs. Carole“ auf Sky: Von Paaren und Tieren
„Du kannst gehen oder es anders haben.“ Von der Privatzoo-Groteske „Tiger King“ zur Serie mit Tiefgang: „Joe vs. Carole“.
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Gegensatzpaare sind Anker im Meer einer komplexen Welt. Putin ist das Böse, Selenskyj der Gute. RTL ist blöde, Arte belesen. Bayern ist fies, BVB freundlich. Wer die verrückt gewordene Zeit zurechtrücken möchte, findet Halt im Kontrast schwarz-weißer Dichotomien. Zu dumm, dass Ying und Yang, Engel und Teufel, Hüben und Drüben ebenso der neutrale Bereich nüchterner Abwägung fehlt wie Joe und Carole. Oder wie das NBC-Portal Peacock titelt: „Joe vs. Carole“.
Für Fernsehzuschauer, die seit März 2020 in einer Höhle hocken: Am Bildschirm bilden Joe und Carole aktuell das schwarz-weißeste Gegensatzpaar unserer verrückt gewordenen Zeit. Genauer: Joe Exotic und Carole Baskin, Streithähne der legendären Netflix-Doku „Tiger King“ und eigentlich zu surreal, um wahr zu sein. Fiktionalisierung unnötig. Könnte man meinen.
Showrunner Etan Frankel („Gossip Girl“) meint freilich was anderes und hat die Story des texanischen Raubkatzenzüchters im Kleinkrieg mit der Raubtierkatzenschützerin aus Florida in eine bemerkenswerte Dramaserie verwandelt. („Joe vs. Carole“, Sky, acht Folgen)
Hier Joseph Allen Maldonado-Passage, geborener Schreibvogel alias Joe Exotic, der im größten zahlloser Privatzoos Hunderte Großkatzen hortet. Dort Carole Baskin, geborene Stairs Jones alias Murdock, in deren Hilfsorganisation „Big Cat Rescue“ geschundene Kreaturen dieser bizarren Szene unterkommen.
Diametraler könnten sich zwei Amerikaner mit ähnlicher Obsession kaum gegenüberstehen – zumal der selbst erklärte „Tiger King“ gerade eine 22-jährige Haftstrafe dafür absitzt, seiner Feindin Auftragskiller auf den Hals gehetzt zu haben. Genau hier beginnt ein Achtteiler, den Sky ab Donnerstag nach Deutschland bringt.
Nachdem die Polizei Carole (Kate McKinnon) und Howard (Kyle MacLachlan) Baskin über Joes (John Cameron Mitchell) Mordpläne informiert, zoomt Regisseur Justin Tipping sieben Jahre zurück, als Opfer und Täter noch nichts voneinander wissen.
Dämonen einer schwulen Jugend im homophoben Texas
Das allerdings ändert sich recht schnell. Denn bei einer von Joes so populären wie polarisierenden Roadshows filmt jemand aus Caroles Team die miserablen Haltungsbedingungen seiner eingepferchten Wildtiere und bringt ihre Schutzorganisation somit auf dessen Spur.
Was darauf folgt, dürfte allen bekannt sein, die irgendwann Wind vom Click-Millionär „Tiger King“ gekriegt haben: Mit zunehmend harten Bandagen kämpfen beide fortan um die Deutungshoheit echter Tierliebe und nutzen dafür ein Internet, das 2009 noch recht neu, aber voller Wutpotenzial war.
Während „Tiger King“ auf Netflix an der Oberfläche eines schwarz-weißen Duells bleibt, das auch ohne viel Fantasie fantastisch war, nimmt sich Frankels Writers Room alle Freiheit, die Wirklichkeit fiktional auszuschmücken – allerdings weniger im Dienst von Eskalation und Action als in dem von Tiefgang und Differenzierung.
Auf der Grundlage des gut informierten Podcasts „Over My Dead Body“ porträtieren Tipping und seine Co-Regisseurin Natalie Bailey schließlich Charaktere, die mehr sind als die Summe ihrer Absurditäten.
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Obwohl John Cameron Mitchell den Hinterwäldler als megalomanen Freak mit Vokuhila und Hinterwäldler-Habitus zeichnet, der Joe Exotic offenbar ist, erleben wir ihn abseits seiner Egomanie als seelenwunden Teil einer zarten Lovestory zum späteren Ehemann John Finlay (Sam Keeley), mit der er die Dämonen einer schwulen Jugend im homophoben Texas überwindet. Das Publikum lernt nicht nur einen etwas anderen Tiger King als bei Netflix kennen, es lernt auch viel über ein Land im Aufruhr unversöhnlicher Gegenpole.
Wie ähnlich sich die beiden der Serie dabei sind, erfahren wir bis Folge drei zwar nicht. Wie fabelhaft alle Beteiligten den Clash wesensverwandter Zivilisationen spielen, macht allerdings Lust auf die restlichen vier Episoden.
Mehr als sechs Stunden lang gerät „Joe vs. Carole“ so zum gefühlvoll unterhaltsamen Lehrstück der Selbstdarstellungsgesellschaft, das über die Doku hinausgeht und doch ihre Fäden aufnimmt. „You can leave or else“, droht der Kellner, als Joe 1982 mit seinem Tigerbaby in eine Schwulenbar stolziert.
„Du kannst gehen oder es anders haben“, droht Caroles Tochter 28 Jahre später, als er zum Friedensgespräch im Refugium aufkreuzt.
Da Drohungen sein Dasein prägen, schlägt der Tiger King eben zurück. So läuft es gerade im Land vor/nach Donald Trump, und zwar mächtig schief. So macht es die Serie bei allem Aberwitz sehr wahrhaftig.
Jan Freitag
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