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Panorama: Am Ende der Abschied

Der Bergsteiger Reinhold Messner hat 35 Jahre nach dessen Tod seinen Bruder Günther identifiziert

Es liegt beinahe vier Wochen zurück, als drei Paschtunen dringend Reinhold Messner zu sprechen wünschen, den berühmten Bergsteiger, der sich im Hotel Shangrila in Chilas, Nordpakistan, aufhält. Die Männer sind aus dem Diamir-Tal auf der Westseite des Nanga Parbat gekommen, und sie haben Neuigkeiten. Zwei Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt der öffentlichen Kampagne, die Messner die Schuld am Tod seines Bruders Günther im Jahr 1970 zuschrieb, hatte er sie beauftragt, den Gletscher nach etwaigen Überresten des Verschollenen abzusuchen. Jetzt haben sie etwas entdeckt: Knochen, einen Schuh, Kleidung, Haare.

Auf dem Diamir-Gletscher liegt der Schlüssel, der das letzte Tor zu einem der umstrittensten Rätsel der jüngeren Bergsteiger-Geschichte öffnet. Seit Reinhold Messner vor 34 Jahren allein von seinem ersten Achttausender, dem Nanga Parbat, zurückkehrte, und sein Bruder an demselben Berg verschwunden blieb, ranken sich Legenden um den Verbleib des Jüngeren. Nach dem Erreichen des Gipfels sei Günther höhenkrank geworden und habe sich den Wiederabstieg über die steile Rupal-Wand nicht mehr zugetraut, lautete Reinholds Erklärung. Gemeinsam hätten sie sich die im Westen gelegene flachere Diamir-Flanke des Berges hinuntergeschleppt. Fast schon in Sicherheit müsse den erschöpft nachfolgenden Günther eine Lawine erfasst haben, so die Vermutung Messners.

Gegen diese Version setzen zwei der damaligen „Bergkameraden“, Max von Kienlin und Hans Saler, ihre eigene Theorie. Danach habe Messner seinen Bruder im Gipfelbereich im Stich gelassen und sei allein auf die Diamir-Seite übergewechselt. Damit habe er sich den Traum von der ersten Überschreitung eines Achttausenders erfüllt. Sein hilfloser Bruder sei dann beim Versuch, über die Rupal- Wand zurückzuklettern, abgestürzt. Nur der Fundort kann diesen Streit beenden. Würde Günther Messner im Diamir-Tal gefunden, wäre Messners Aussage belegt.

Vom Hotel am Indus zur Fundstelle sind es – erst mit dem Jeep und dann zu Fuß – mindestens zwei Tage. Zwei Tage, die Messner nicht hat, denn er ist als Reiseleiter unterwegs. Auf schwieriger und bislang kaum begangener Route führt er eine Gruppe von neun Bergsteigern und fünf Bergsteigerinnen rund um den Nanga Parbat, seinen „Schicksalsberg“.

Wozu sich auch eilen? Der geplante Trek berührt ohnehin das Diamir-Tal, und nachdem ein Knochen, den Messner bei seiner Expedition im Jahr 2000 dort fand, als von seinem Bruder Günther stammend identifiziert wurde, wäre der neue Fund nur eine Bestätigung des alten. Freilich ist noch eine andere Dimension des Dramas von 1970 spürbar. Was der Diamir-Gletscher nach 35 Jahren freigibt, ist mehr als ein Beweis. Es ist ein Teil jenes Menschen, mit dem Messner damals wie heute zutiefst innerlich verbunden ist.

So praktiziert Messner die langsame Annäherung an seine Vergangenheit. Die drei Entdecker werden zum Schweigen verpflichtet und Messner bricht mit seinen Gefährten zur geplanten Umrundung auf. Drei Tage später ist Messners Absicht, erst zu sehen und dann zu kommentieren, Makulatur. Ein selbst ernannter „Sprecher“ hat von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad den Fund der Welt verkündet und irgendwie ist auch die Nummer des Satellitentelefons bekannt geworden, über das man Messner erreichen kann. Zeitungen melden sich und Fernsehsender. Die Medienwelt verlangt fast stündlich Antworten von Messner. Aber der will nicht spekulieren, bevor er selbst nicht den Fund in Augenschein genommen hat. Also schaltet er das nervende Gerät erst einmal ab.

Zum ersten Mal begeht er auf dieser Reise den 5360 Meter hohen Mazeno-Pass, die Verbindung zwischen Rupal- und Diamir-Tal. Damals, als die Messner-Brüder vom Gipfel des Nanga Parbat ins unbekannte Diamir-Tal abstiegen, was ihr Expeditionsleiter Herrligkoffer hätte vermuten können, blieb Hilfe für die Brüder aus. Dabei hätte ein gut akklimatisierter Bergsteiger den Talsprung leicht in zwölf Stunden schaffen können, stellt Messner fest.

Die Fundstelle ist markiert. Sie liegt auf etwa 4300 Meter Höhe. Die Lawine, die Günther am Wandfuß begrub, wurde Teil des Gletschers und trug ihn in 35 Jahren bis an die jetzige Stelle. Je nach den Druck- und Eisverhältnissen zermalmt der zähe Eisfluss Körper und Ausrüstungsteile und trägt sie konserviert in der Kälte mit sich fort. Beim Abschmelzen in den wärmeren Talzonen treten dann die Überreste wieder zutage. Messner geht mit nur drei Begleitern, einer davon ist der Arzt Rudolf Hipp, zu dem, was von seinem Bruder übrig ist: ein Oberarm, das Schlüsselbein, Beckenknochen, Rippen, die Wirbelsäule.

Dass es sich wirklich um Günther handelt, verrät ihm ein Detail eines ebenfalls gefundenen Schuhs. Nicht nur, dass die Dreiteilung aus Überschuh, rotem Innenschuh und Filzeinlage exakt dem damaligen Expeditionsmodell entspricht: In der Schnürung des Stiefels erkennt man eine zusätzliche Schlinge zur Befestigung der Steigeisen. Eine Spezialkonstruktion, die sich die Messner-Brüder zur Erhöhung der Festigkeit ausdachten.

Als Hipp vorsichtig mit einem Skalpell den Innenschuh aufschneidet, legt er den vollständig erhaltenen rechten Fuß frei, bekleidet mit einer Wollsocke, die in einer Plastiktüte steckt. „Eine gute Idee, um sich vor der Kälte zu schützen“, sagt Messner mit hörbar belegter Stimme und wendet sich plötzlich ab. Der kurze Moment genügt, um zu begreifen, dass Messner keinem „Beweisstück“ begegnet, sondern seinem toten Bruder.

Am nächsten Tag um die Mittagszeit findet in einer schlichten Feier die Einäscherung der Gebeine Günther Messners statt. Auf der Moräne des Gletschers entzündet Messner den Holzstoß. Er hat ein nepalesisches Ritual gewählt, Hipp spricht die Worte von der Vergänglichkeit des Menschen: „Staub sind wir und zum Staub kehren wir zurück.“

Um jeden Zweifel am Fund auszuschließen, werden Haare und Knochenproben in Europa einer genetischen Untersuchung unterzogen. Günther Messners Schuh wird einen Ehrenplatz im Messner Mountain Museum in Bozen erhalten, das im nächsten Jahr eröffnet. Den Satz, der Messner Recht gibt, hat sein schärfster Kritiker Max von Kienlin schon vor Jahren hellsichtig formuliert: „Wenn Reinhold Teile von Günther am Fuß der Diamir-Flanke findet, sind wir alle Schafsköpfe.“

Der Autor ist Verfasser einer viel beachteten Nanga-Parbat-Geschichte (Berlin Verlag) und hat Reinhold Messner rund um den Nanga Parbat begleitet.

Ralf-Peter Märtin

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