Beobachter zwischen zwei Kulturen: Deutsche und japanische Literatur im Leben Mori Ogais
Das Staunen ist dem jungen Japaner Mori Rintaro anzumerken, als er am 11. Oktober 1884 nach einer langen Reise von Yokohama über Marseille in Berlin ankommt, um sein Medizinstudium fortzusetzen. Aus seinem Leben.
Stand:
„Mit der vagen Erwartung von Erfolg und Ruhm und einer an Fesseln gewöhnten Lernfähigkeit stand ich plötzlich in der Mitte dieser neuen Metropole Europas. Welcher Glanz traf meine Augen, welche Farbenpracht verwirrte mein Herz! Übersetzt man ‚Unter den Linden’ als ‚Unter den Bäumen der Erleuchtung’, so stellt man sich dabei einen abgeschiedenen Ort vor. Aber seht die Herren und Damen, die in Gruppen auf den beidseitigen, steingepflasterten Bürgersteigen dieser schnurgeraden Straße gehen! Die Offiziere mit strammer Haltung, (…) die entzückenden, nach Pariser Art aufgeputzten Mädchen: alles und jedes erregte mein Auge.“
Das Staunen ist dem jungen Japaner Mori Rintaro anzumerken, als er am 11. Oktober 1884 nach einer langen Reise von Yokohama über Marseille in Berlin ankommt, um sein Medizinstudium fortzusetzen. Dieses Zitat stammt aus der Erzählung „Maihime“, die er 1890, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Europa, veröffentlichte.
Mori Rintaro, der als Schriftsteller unter dem Namen Mori Ogai, den er sich während seines Studiums in Deutschland zugelegt hatte, bekannt wurde, war ein außerordentlich gebildeter und vielseitiger Mann, der für die Entwicklung der deutsch-japanischen Beziehungen und für die Modernisierung der japanischen Literatur von großer Bedeutung war.
Mori Ogai wurde am 17. Februar 1862 in Tsuwano, einer westjapanischen Residenzstadt in der heutigen Präfektur Shimane, geboren. Unberührt von den großen Umwälzungen im Lande – 1854 wurde von den Großmächten die Öffnung des Landes erzwungen, und 1868 begann mit dem Sturz des Feudalsystems die forcierte Modernisierung des Landes unter Kaiser Meiji, der der Epoche seinen Namen gab – wuchs Mori Ogai im Schoße einer alten Samurai-Familie auf, genoß eine traditionell stark chinesisch ausgeprägte Erziehung und lernte sehr früh die niederländische Sprache, die einzige, die damals den Zugang zur westlichen Naturwissenschaft ermöglichte.
1872 siedelte die Familie in die neue Hauptstadt Tokio über, wo er an einer Privatschule Deutsch lernte. Auf Grund eines gefälschten Geburtsdatums konnte Ogai schon als zwölfjähriger Vorbereitungskurse zur staatlichen Medizinschule in Tokio besuchen. Daß er einmal nach Europa gehen würde, das an der Modernisierung Japans regen Anteil hatte, stand schon sehr früh fest. Deutschland hatte inzwischen längst die Niederländer in der Medizin abgelöst, so daß es logisch schien, japanische Studenten mit Stipendien nach Übersee zu schicken, war doch die Medizinersprache in Japan Deutsch.
Ogai reiste 1884 weiter nach Leipzig, Dresden, wo der 22jährige dem sächsischen König vorgestellt wurde. 1886 siedelte Ogai nach München über, wobei er allerdings auch von den vielfältigen Möglichkeiten des Münchner Kulturlebens Gebrauch machte. 1887 kehrte er wieder nach Berlin zurück, studierte bei Robert Koch und leitete schließlich dank seiner perfekten Deutschkenntnisse de facto die japanische Delegation bei der 4. internationalen Rote-Kreuz-Konferenz in Karlsruhe.
Sprachkenntnis und Neugier
Ogai war ein ausgezeichneter Beobachter, der allerdings zu der für ihn neuen Welt auf Distanz ging, wie er 1890 in zitierter Erzählung „Maihime“ schreibt: „Aber ich hatte mir selbst geschworen, wo ich mich auch befinden mochte, nie mein Herz von einem verführerischen Anblick bewegen zu lassen, und hielt immer einen Abstand gegenüber den auf mich einstürzenden Dingen“. Aber dank seiner perfekten Sprachkenntnisse und seiner vermutlichen Neugier muß er in seinen vier deutschen Jahren unendlich viel gelesen haben, Kenner sprechen von 4000 Titeln deutscher Autoren in vier Jahren, eine schier unvorstellbare Zahl.
Wahrscheinlich ist hier die Wurzel für Ogais zweiter Karriere als Schriftsteller und Übersetzer zu suchen, denn kaum war er im September 1888 nach Japan zurückgekehrt, entfaltete er vielfältige Aktivitäten, vielleicht auch ausgelöst durch seine Beziehung zu einer Deutschen, die ihm nachgereist war, auf massiven Druck der Familie aber wieder die Heimreise nach Deutschland antreten musste.
Ogai veröffentlichte unzählige medizinische Artikel und fängt an, in großem Stil deutsche Autoren zu übersetzen. Ihm verdanken die Japaner die Übersetzung von Lessing, E.T.A. Hoffmann, Hauptmann, Schnitzler, Hofmannsthal, Wedekind, D’Annunzio, Ibsen, Strindberg, Maeterlinck, Tolstoj, Washington Irving und Bret Hart, um nur die wichtigsten zu nennen. Großen Ruhm erlangte er allerdings 1913 mit seiner genialen Übersetzung von „Faust I und II“, der Goethe zu einem festen Bestandteil der japanischen Kultur werden ließ.
Zurück in Japan, blieb Ogai ein Skeptiker, der manchen unüberlegten Reformeifer mit vernünftigen Argumenten bremste: „Mir begegneten die Menschen der Heimat mit Enttäuschung. Das war ihnen auch nicht vorzuwerfen, denn einen solchen Europaheimkehrer wie mich hatte es bis dahin nicht gegeben. Bisher war es so gewesen, daß die aus dem Westen Heimkehrenden mit vor Erwartung strahlendem Gesicht aus ihrem Koffer Geräte hervorholten und irgendeine neuartige Taschenspielerei vorführten. Das tat ich nicht“, schreibt 1911 in einem autobiographischen Text.
Der Chef des japanischen Heeressanitätswesens Mori Ogai versammelt im Juli 1889 eine Gruppe von Schriftstellern um sich, die sich dann „Shinseisha“ (Verein Neue Stimme) nennen. Er gründet eine Literaturzeitschrift und zwei medizinische Blätter, seinem Tatendrang waren keine Grenzen gesetzt. 1890 erschien seine erste Erzählung „Die Tänzerin“, in der er seine Erlebnisse in Deutschland verarbeitet hatte, es folgten Novellen, Theaterstücke und Gedichte. Neben Übersetzungen von Hartmanns „Philosophie des Schönen“ und Clausewitz’ „Vom Kriege“ wird die Literatur für den Chef des Heeressanitätswesens immer wichtiger, wobei er auch Einflüssen aus Europa unterliegt.
Sittenstrenges Japan
Mit seiner stark autobiographisch gehaltenen Erzählung „Vita Sexualis“ (1909), die auch auf Deutsch vorliegt, erregte er im sittenstrengen Japan Aufsehen, die Zensur verbot diplomatisch die Zeitschrift, in der der prominente Autor seine „Sexualsozialisierung“ recht offen beschrieben hatte, eine kühle und strenge Erzählung, die schon fast einem wissenschaftlichen Protokoll der Empfindungen gleicht, wobei seelische Aspekte nicht ausgespart bleiben.
Damit befindet sich Ogai im Widerspruch zu japanischen Naturalisten, die diesen Begriff sehr eng auslegten. Sexualitätsangst erscheint bei Ogai als ein Problem der Aufklärung und der Erziehung. Liest man sein Buch, sieht man ihn wieder in der Rolle des damals allerdings ahnungslosen Beobachters, die zu seinem Statement passt, das er einige Jahre später verfasste: „Ich bin ein geborener Zuschauer… Bestenfalls war ich Statist. Aber wenn ich nicht auf der Bühne stand, dann fühlte ich mich in meinem Element, wie der Fisch im Wasser. Denn der Zuschauer fühlt sich wohl unter Zuschauern.“
Ruf eines Konvervativen
Mit „Vita Sexualis“ hatte Ogai wesentlich zur Erneuerung der japanischen Literatur beigetragen, nicht umsonst gilt er heute als Klassiker der Moderne, mit einem Werk von insgesamt 18 Bänden. Siegfried Schaarschmidt nannte „Vita Sexualis“ „die Vergewisserung seiner selbst als eines Japaners, immer in deutlicher Kenntnis der Welt draußen jenseits der Meere und dennoch in klarer Sicht der Unterschiede“.
Die Selbsttötung eines ihm bekannten Generals, der seinem verstorbenen Kaiser in Treue folgte, machte 1912 auf Ogai einen tiefen Eindruck und veranlasste ihn noch an dem Tag des Begräbnisses zu einer ersten historischen Erzählung, in der er den Sitten und Bräuchen nachspürte, die nicht mehr in das moderne Japan passen wollten, was ihm den Ruf eines Konservativen einbrachte.
Aber so einfach machte es Ogai seinen Kritikern nicht, er übersetzte Strindberg und begann ein Manuskript über den europäischen Sozialismus. 1916 schied er aus der Armee aus und wurde Direktor der Kaiserlichen Sammlungen. Bis zu seinem Lebensende arbeitete er an historischen Biographien, bis er am 29. Juni zum ersten Mal in seinem Leben einen Arzt aufsuchte. Er starb am 9. Juli 1922.
Mehr zur Mori Ogai Gedenkstätte unter: http://www2.hu-berlin.de/Japanologie/mog/
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