zum Hauptinhalt

Die Geschichte: Die Ausbeutung der Kinder

Nächsten Samstag ist der Welttag gegen Kinderarbeit – in Deutschland gab es 1839 ein erstes Schutzgesetz. Eine Sozialgeschichte von Charles Dickens bis Bismarck.

Von Andreas Austilat

Der neunte Geburtstag war für den kleinen Oliver kein besonders erfreuliches Ereignis. Vor allem, weil er mit einem Umzug verbunden war: vom Waisen- ins Armenhaus. Aus Englands Armenhäusern aber bezogen die Fabrikanten des Landes ihre billigsten Arbeitskräfte. Das bedeutete: Oliver Twist musste sich fortan seinen Haferschleim selbst verdienen, zunächst mit dem Zupfen von Werg, einer minderwertigen Textilfaser. Neun Stunden täglich. Und damit war er noch gut bedient. Denn England hatte seit 1834 das erste Kinderschutzgesetz der Welt. Danach war Kindern unter neun Jahren fortan die Fabrikarbeit verboten. Bis zu zwölf Jahren sollten sie nicht länger als neun Stunden, bis 18 Jahre nicht länger als zwölf Stunden arbeiten müssen. Oliver Twist, dessen Schicksal die Zeitgenossen 1839 erstmals rührte, ist mithin besser dran gewesen als sein Erfinder, der Schriftsteller Charles Dickens. Denn der wusste, worüber er schrieb. Nachdem sein Vater ins Londoner Schuldgefängnis gesperrt wurde, hatte Dickens selbst als Kind in einer Fabrik arbeiten müssen – ohne jeglichen Arbeitsschutz. Wie man sich das im schlimmsten Falle vorzustellen hat, beschrieb Friedrich Engels in seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Sie waren die vollständigen Sklaven ihrer Brotherren, von denen sie mit größter Rücksichtslosigkeit und Barbarei behandelt wurden.“ In Deutschland hatte das Industriezeitalter mit Verspätung begonnen. Doch die Verhältnisse sollten sich den englischen bald angleichen, wie der Bericht eines Fabrikinspektors im rheinischen Geldern aus dem Jahr 1825 illustriert. Selbst Vierjährige sah er dort bei der Arbeit, 125 Kinder waren zur Nachtschicht eingeteilt. Der Mann diagnostizierte „bleiche Gesichter, matte und entzündete Augen, geschwollene Leiber, böse Hautausschläge“ und schrieb über „unglückliche Geschöpfe, die früh dem Familienleben entfremdet wurden und ihre Jugendzeit in Kummer und Elend verbrachten“. Der Kampf gegen die Ausbeutung von Kindern sollte da noch Jahrzehnte dauern – und in vielen Teilen der Welt hält er bis heute an. Auf 215 Millionen schätzt die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, die Zahl der Kinder unter 15, die in Fabriken, Bergwerken, auf Feldern oder im Sexgewerbe arbeiten müssen. Um auf deren Schicksal aufmerksam zu machen, hat die Organisation den Welttag gegen Kinderarbeit ausgerufen, der immer am 12. Juni auf die Ausbeutung der Jüngsten aufmerksam machen soll. Ehrgeiziges Ziel der ILO ist es, ein weltweites Verbot der Kinderarbeit durchzusetzen, und zwar „in ihren schlimmsten Formen“ bis zum Jahr 2016. Kinderarbeit hat es zu allen Zeiten gegeben. Im europäischen Mittelalter etwa war der frühe Eintritt des Kindes in die Welt der Erwachsenen etwas Selbstverständliches, wie der französische Soziologe Philip Aries in seiner „Geschichte der Kindheit“ darlegt, einem Klassiker des Genres. Sie wurden mit den Erwachsenen groß, kaum jemand dachte daran, dass ihnen besonderer Schutz zukommen müsste. Doch die Verhältnisse sollten sich mit der Industrialisierung, mit der Einführung der Lohnarbeit im großen Stil, grundlegend ändern. Bis dahin war erfolgreiche Arbeit mit körperlicher Kraft oder mit Geschicklichkeit, wenn nicht gar Kunstfertigkeit verbunden, die Kinder noch nicht haben konnten. Mitunter regelten die Bestimmungen der mittelalterlichen Zünfte, etwa die der Nürnberger Buchbinder, der Württembergischen Ziegler oder der Schneider Hohenzollerns, dass Lehrlinge nicht vor dem 14. oder gar dem 15. Lebensjahr eingestellt werden dürften. Doch das beginnende 19. Jahrhundert stand im Zeichen der neuen Gewerbefreiheit, in der Zunftregeln an Bedeutung verloren. Und an die Stelle der menschlichen Kraft trat die neue Maschine, die notfalls auch Kinderhände bedienen konnten, vielleicht sogar geschickter, auf jeden Fall aber billiger. Der folgende Fall trug sich am 11. Mai 1837 zu, wie der „Rheinisch-Westfälische Anzeiger“ seinerzeit meldete: Ein zwölfjähriges Mädchen war in selbstmörderischer Absicht in die Wupper gesprungen, ein zufällig vorbeikommender Färbergeselle namens Leblanc rettete ihr das Leben. Der Fall erhitzte seinerzeit die Gemüter, als herauskam, dass das Mädchen sich hatte umbringen wollen, weil ihr infolge einer Ungeschicklichkeit Lohnabzug drohte. In einem Leserbrief stellte der Fabrikant Johannes Schuchard aus Barmen die Frage, wie groß die Verzweiflung des Kindes doch gewesen sein müsse. Und er malte eine Zukunft aus, in der Kinder von früh bis spät in Fabriken eingesperrt, um Luft, Sonne, ja um alles gebracht würden, was für ein menschliches Gedeihen nötig sei. Das war das Vorspiel zur ersten parlamentarischen Debatte zum Thema Kinderarbeit in Deutschland. Denn Schuchard war nicht irgendwer, er war Abgeordneter im rheinischen Provinziallandtag, der im gleichen Jahr eine Petition an den preußischen König richtete, die auf ein Kinderschutzgesetz drängte. Die Haltung Schuchards zeigt, wie unübersichtlich die Fronten im Kampf gegen die Kinderarbeit waren. Es gab Fabrikanten wie ihn, die sich zu ihrer sozialen Verantwortung bekannten. Aber auch Stimmen wie den Verwaltungschef der preußischen Provinz Magdeburg, der jegliche Einschränkungen ablehnte, denn sie „müssten die notwendige Folge haben, die inländischen Fabrikate mehr oder weniger zu verteuern, mithin die jetzt schon so schwer zu ertragende Konkurrenz des Auslandes, wo ähnliche Maßregeln nicht stattfinden, noch mehr zu begünstigen.“ Das soll wohl heißen, zu viel Arbeitsschutz gefährde den Standort und klingt, als ob die Globalisierung keineswegs eine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist. Preußen kannte in Anfängen bereits seit 1717 so etwas wie eine Schulpflicht. Doch wurde deren Wert als Erziehungsinstanz sogar von amtlichen Stellen infrage gestellt, wie etwa vom Regierungspräsidenten in Potsdam, der schrieb: „Manche Laster, die ich nicht zu nennen brauche, dürften durch das Stillsitzen der Kinder in den Trivial-Schulen begünstigt, während sie durch die anhaltende Beschäftigung und Ermüdung derselben in einer Fabrik verhütet werden.“ Dies war keineswegs eine Außenseitermeinung: Arbeit, so hart sie auch sein mochte, erschien vielen Zeitgenossen als probates Erziehungsmittel. Sogenannte Fabrikschulen hatten seit 1815 Konjunktur, die Schulstunden sollten entweder in der Mittagspause oder nach der Arbeit stattfinden, wobei das Schulgeld den Kindern vom Lohn abgezogen wurde. Kinderarbeit galt gar als pädagogisch wertvoll, vermittele sie doch Tugenden wie Fleiß, Gehorsam, Pünktlichkeit. Wie der königliche Oberpräsident der preußischen Regierungsbezirke befand, habe der Schulbesuch demgegenüber zurückzustehen: „Er ist mit der Fabrikarbeit schwer zu vereinbaren. Er hat ergänzende Erziehungsaufgaben.“ Denn waren es nicht die Eltern selbst, die ihre Erziehungspflichten vernachlässigten, ihre Kinder zur Arbeit schickten? Kinderarbeit war vor allem ein Armutsproblem. Bauern, die nach der Befreiung aus der Erbuntertänigkeit von ihrer Arbeit nicht mehr leben konnten, weil sie Entschädigungen aufzubringen hatten, die sie ruinierten, Handwerker, die mit den neuen Fabriken nicht konkurrieren konnten: Das waren die Schattenseiten der preußischen Reformen nach dem Ende der napoleonischen Kriege und die Folgen der beginnenden Industrialisierung. Für viele Kinder war denn auch nicht Fabrikarbeit, sondern Betteln Hauptbroterwerb. Leipzig zählte 1832 über 2000 Bettler, 1000 davon waren Kinder. Die unbekannte Zwölfjährige war angeblich auch nicht vor der Härte der Arbeit geflohen, als sie in die Wupper sprang, sondern weil sie den drohenden Lohnabzug fürchtete. Und es waren arbeitende Kinder wie der kleine Charles Dickens in England, die mitunter ihre Familie ernähren mussten. Es war also nicht verwunderlich, dass eine Fabrikschule in Düsseldorf per Kabinettsorder nach einem wohlmeinenden Zeitungsbericht das Interesse des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. erregt hatte und zur Nachahmung empfohlen worden war, schien sie doch bestens geeignet, die gewünschten Tugenden zu vermitteln und gleichzeitig bettelnde Kinder von den Straßen fern zu halten. Bei einer Überprüfung der gleichen Schule wurde allerdings schnell ersichtlich, dass die Kinder in den beiden Spinnstofffabriken besagter Einrichtung praktisch rund um die Uhr arbeiteten, in Zwölf-Stunden-Schichten und vom sechsten Lebensjahr an. Ein bis höchstens zwei Stunden Unterricht wurden nach Schichtende abgehalten. Schockiert über solche Verhältnisse hatte Unterrichtsminister Altenstein bereits 1824 Inspektionen in allen Industrie-Provinzen Preußens angeordnet. Viele Ergebnisse wurden unterschlagen, andere beschrieben haarsträubende Zustände. Zu einer gesetzlichen Regelung kam es trotzdem nicht. Sie scheiterte nicht zuletzt am Veto des Handelsministers, der die Bedeutung einer eigenen Industrie hervorhob. Es blieb bei der Aufforderung, die Bestimmungen über den Schulbesuch strikt durchzusetzen, „einer guten Waffe gegen gewissenlose Eltern und eigennützige Fabrikanten“. Ein wenig Bewegung in die Sache kam erst wieder, als der General Heinrich Wilhelm von Horn einen Landwehrgeschäftsbericht vorlegte. Das Militär verfüge in den Fabrikgegenden Preußens nicht mehr über genug Reserven, hieß es darin. Nächtliche Fabrikarbeit habe den Nachwuchs derart geschwächt, dass er zum Militärdienst nicht mehr taugte. Die Sorge, Preußen könnten die Soldaten ausgehen, beunruhigte den König außerordentlich. Es dürfe nicht sein, dass künftige Generationen noch schwächlicher und verkrüppelter wären als die jetzige, schrieb Friedrich Wilhelm III. an seine Minister. Es sollte immer noch Jahre dauern. Und wer schließlich den Ausschlag gab, das Militär mit seinem Bedarf an gesunden Rekruten oder Humanisten wie Schuchard, die die Debatte in die Öffentlichkeit trugen, ist unklar. Immerhin, mit dem preußischen „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ vom 9. März 1839 wurde das erste Kinderschutzgesetz in Deutschland verabschiedet. Kinder unter neun durften fortan nicht mehr in Fabriken beschäftigt werden, Jugendliche unter 17 nur, wenn sie einen dreijährigen Schulbesuch nachweisen konnten. Bis zum 17. Lebensjahr durfte nicht länger als zehn Stunden täglich gearbeitet werden. Außerdem wurden die Unternehmer verpflichtet, eine Statistik über ihre jugendlichen Arbeiter zu führen. Und die vielleicht wichtigste Neuerung war die Einführung von Fabrikinspektoren, die den Arbeitsschutz kontrollieren sollten. Zehn Jahre später veröffentlichte das statistische Büro Zahlen, danach waren 32 000 Kinder unter 14 in Fabriken beschäftigt. Eine geringe Zahl, wenn man berücksichtigt, dass es in Preußen zwei Millionen Kinder zwischen neun und 14 gab. Bezogen auf 346 000 Fabrikarbeiter in den preußischen Industrieprovinzen, entsprach ihr Anteil allerdings immer noch fast zehn Prozent. Nicht berücksichtigt waren übrigens Kinder, die in der Landwirtschaft arbeiteten, sie wurden vom Gesetz auch nicht erfasst. Tatsächlich war das preußische Regulativ nicht mehr als ein Anfang. Aber es fand Nachahmer. Die Staaten des deutschen Bundes folgten, Bayern 1840, Sachsen erst 1861. Im Ausland führte Frankreich 1841 ein ähnliches Gesetz ein. Das preußische Regulativ wurde bis 1891 schrittweise verschärft, gegen den Widerstand auch Bismarcks. Der Kanzler argumentierte damals mit den Erfordernissen einer Wirtschaft, die weltweiter Konkurrenz ausgesetzt sei, und stellte sich ganz im Sinne der Wirtschaftsliberalen gegen staatliche Eingriffe: „Jede weitere Hemmung und künstliche Beschränkung im Fabrikbetriebe vermindert die Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohnzahlung.“ In seinen offiziellen Statistiken führte das Deutsche Reich 1895 immer noch 38 267 in der Industrie tätige Kinder unter 14 Jahren. Drei Jahre später kommt eine andere Zählung sogar auf zehnmal so viele. Nur arbeiteten die nicht mehr in Fabriken, sondern in Heimarbeit, dort, wo kein Kontrolleur je hinkam. Ihre Lage verbesserte sich erst nachhaltig, als sich auch die Lage ihrer Eltern verbessert hatte, die Armut als Massenphänomen besiegt war. Heute ist die Position der ILO mit ihrer Forderung für ein Verbot der Kinderarbeit nicht unumstritten. Ein grundsätzliches Verbot würde arbeitende Kinder in die Illegalität drücken, sie noch schlimmerer Ausbeutung aussetzen, sagen Kritiker. Weshalb manche es vorziehen, für bessere Arbeitsbedingungen für Kinder zu plädieren. So warnt der Berliner Sozialwissenschaftler Manfred Liebel davor, dass ein Verbot der Kinderarbeit dort, „wo das Arbeitseinkommen der Kinder für das Überleben unverzichtbar ist, die Familien in noch größere Not stürzt“. Die richtige Forderung wäre daher, die Ausbeutung von Menschen jeden Alters zu beenden. Charles Dickens hatte übrigens Glück. Sein Vater wurde nach einem Jahr aus dem Schuldgefängnis entlassen und Dickens konnte mit 14 noch einmal die Schule besuchen. Er wurde Journalist und Autor. Ein ziemlich wohlhabender sogar. Man kann wohl sagen, dass die Chance auf Bildung zumindest ihn aus seiner Misere befreit hat.

Zur Startseite