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Neuseeland: Die rote Zone von Christchurch

185 Menschen sind tot, und noch immer stehen Ruinen im Zentrum von Neuseelands drittgrößter Stadt. Der Schriftsteller Carl Nixon hat 2011 das Beben miterlebt. Er ist geblieben. Porträt einer Stadt, die weitermacht.

Es sind gerade mal 25 Sekunden, die die Stadt Christchurch und das Leben ihrer Bewohner für immer verändern. Carl Nixon sitzt am 22. Februar 2011 um 12 Uhr 51 zu Hause an seinem Schreibtisch, als plötzlich die Erde mit unglaublicher Wucht bebt. Tassen und Teller schießen aus den Schränken; Bücher, Lampen, die ganze Einrichtung fliegt durch die Luft. „Es fühlte sich an, als würde ein riesiger LKW durch unser Haus rasen“, erinnert sich der Schriftsteller.

Nixon wohnt mit seiner Familie im Viertel St. Martins, im Süden der neuseeländischen Stadt Christchurch, auf einem Berg. Vom zweistöckigen Haus mit der Veranda und den großzügigen Fensterfronten haben sie einen wunderschönen Blick auf die schneebedeckten Neuseeländischen Alpen in der Ferne und das Zentrum Christchurchs im Tal. An jenem Mittag jedoch stiegen unten riesige Rauchwolken auf. „Da war uns sofort klar, dass in der Innenstadt Gebäude kollabiert und Menschen gestorben sein mussten.“

Christchurch ist mit knapp 380 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes. Sie liegt auf der südlichen jener beiden Hauptinseln, die zusammen Neuseeland bilden, an der Ostküste, im Verwaltungsbezirk Canterbury Region. Die Bewohner sind es gewöhnt, das es immer mal wieder rumpelt. Bereits ein halbes Jahr vor der Katastrophe, in der Nacht des 4. Septembers 2010, erschütterte ein heftiges Beben der Stärke 7,1 die Stadt. Damals wurden zahlreiche Gebäude beschädigt, doch niemand starb. Das nächste große Beben erreichte nur 6,3 auf der Richter-Skala, aber sein Zentrum lag näher an Christchurch, rund zehn Kilometer südöstlich der Innenstadt und nur fünf Kilometer unter der Erdoberfläche. Als die Erde aufbrach, wölbte sich der Beton wie Gummi, die Wucht pulverisierte ganze Häuser, vor allem das Fernsehgebäude, in dem 115 Menschen starben. Insgesamt fanden an jenem Tag 185 Menschen den Tod. Bis heute ist der 22. Februar ein traumatischer Tag für die Region und für das ganze Land mit seinen 4,4 Millionen Einwohnern.

Der 45-jährige Nixon hatte Glück, dass in seiner Familie niemand ums Leben kam. Sein damals sechsjähriger Sohn kletterte in der Schulpause gerade auf einen Baum, als es losging. Er fiel herunter, blieb aber unverletzt. „Wir haben ihn danach unseren Kokosnuss-Jungen genannt“, erzählt Nixon. Seine Tochter Alice besuchte eine andere Schule, die im Osten der Stadt liegt. Da alle Straßen und Brücken dorthin zerstört waren, konnten die Nixons ihre Tochter erst am nächsten Morgen zu sich holen.

In den Tagen nach dem Beben halfen die Neuseeländer den Betroffenen in der Canterbury Region. Nationale und internationale Rettungsteams suchten nach Vermissten, tausende Studenten und andere Freiwillige kamen spontan zusammen, um die Häuser der Anwohner von Trümmern zu befreien. Andere stellten Essen und Getränke bereit. Da in vielen Häusern der Strom ausgefallen war, veranstalteten die Christchurcher notgedrungen Barbecues, sie versorgten sich selbst mit Frischwasser und bauten im Garten Plumpsklos. Eine Familie sägte einfach ein Loch in einen alten Schaukelstuhl und stellte ihn in eine ruhige Ecke.

„Unser Wohnhaus ist weitgehend unbeschadet“, sagt Carl Nixon. Wie die meisten Bewohner der erdbebengefährdeten Regionen hat auch Nixons Familie heute stets einen 40-Liter-Kanister mit Wasser vor Ort, ausreichend Lebensmittel im Haus „und neuerdings einen Gasherd“. Er sieht zu, dass sein Mobiltelefon immer aufgeladen ist, bevor er das Haus verlässt.

Carl Nixon war früher Lehrer, seit 1997 lebt er vom Schreiben. Wie die meisten neuseeländischen Schriftsteller hat er mit Kurzgeschichten angefangen, 2006 dann veröffentlichte er seinen ersten Roman „Rocking Horse Road“, der vor wenigen Wochen im Weidle Verlag auch auf Deutsch erschienen ist. Als einer von rund 60 neuseeländischen Autoren wird Nixon dieses Jahr sein Land bei der Frankfurter Buchmesse vertreten.

An diesem sonnigen Nachmittag sitzt er im Boatshed-Café am Avon River, der Fluss schlängelt sich durch Christchurch. Das Café grenzt an den weitläufigen Hagley Park, und wer hier sitzt, sieht nicht viel von Zerstörungen, die die Stadt immer noch prägen. Bis heute zählen Teile der Innenstadt zur sogenannten „Red Zone“, zum gesperrten Bereich, auf dem Stadtplan sind sie rot unterlegt. „Das Sperrgebiet wird mit der Zeit immer kleiner“, sagt Nixon und zeichnet ein, wie weit die Zone anfangs reichte. Das Café lag mittendrin, inzwischen gilt das Gebiet als sicher. Christchurchs Wunden heilen langsam.

Nur fünf Fußminuten entfernt graben sich riesige Bagger mit wuchtigen Schaufeln in Beton, Stück für Stück wird ein mehrstöckiges Gebäude zerlegt. Es ächzt und kracht, Staub wirbelt durch die Luft, man spürt ihn in den Lungen. Die Baustelle ist nur eine von vielen Spuren, bis Ende 2013 wird es noch dauern, alle zerstörten Häuser abzureißen.

In der Innenstadt, wo die meisten Menschen starben, befanden sich früher die zentrale Einkaufsmeile und der Sitz vieler Firmen. Paul Lonsdale, Mitbegründer der Initiative „Restart“, war es deshalb wichtig, dass das Zentrum so schnell wie möglich wieder zum Leben erweckt wird. Das privat initiierte Projekt verschiedener Unternehmen ließ 27 farbenfroh gestrichene Seefracht-Container in der Cashel Street aufstellen, in denen die Firmen seit Oktober 2011 temporäre Geschäfte eingerichtet haben: Modeläden, ein Computergeschäft, Bankfilialen, Schuh- und Geschenkläden. Die Fußgängerzone ist mit Blumenbeeten dekoriert, Sträucher wurden kunstvoll zu Elefanten oder anderem Getier zurechtgestutzt. „Was mich sehr freut“, sagt Lonsdale, „ist, dass auch viele ältere Menschen und Eltern mit ihren Kindern zu uns kommen. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen die Gegend wieder für sicher halten.“ Das Büro des Restart-Managers liegt ebenfalls in einem Container. Direkt nebenan stehen kleine Imbissbuden, sie verkaufen Sushi, Gyros und Bratwürste der Marke „Fritz’s Wieners, Bavarian Style“.

Zahlreiche Spaziergänger sind in der Fußgängerzone unterwegs, sie sonnen sich auf Bänken oder sitzen im zweistöckigen Container-Café, während ringsum die Abrissarbeiten der Baustellen zu hören sind. Etliche Passanten bleiben stehen, schauen eine Weile zu, machen Fotos. Am Ende der Straße stößt man wieder auf die „Red Zone“, die durch einen zwei Meter hohen Maschendrahtzaun abgetrennt ist. Daran hängen getrocknete Rosen und Mitleidsbekundungen, für die Menschen, aber auch für die zerstörte Kathedrale, die eines der Wahrzeichen Christchurchs war.

Seit 2011 hält dieses Nebeneinander von Schmerz und Aufbruch an. Fast jeder Bewohner ist persönlich von der Naturkatastrophe betroffen, sei es, dass Familienangehörige oder Bekannte gestorben sind, sei es, dass das eigene Zuhause zerstört wurde. Dennoch sollen 98 Prozent der Einwohner in Christchurch geblieben sein. Auch für den Schriftsteller Nixon stand nie zur Debatte, nach dem Erdbeben seine Heimat zu verlassen. „Ich bin in Christchurch geboren, meine ganze Familie lebt hier.“ Seine Kinder seien recht gut mit dem einschneidenden Erlebnis klargekommen. „Wahrscheinlich auch, weil meine Frau und ich relativ ruhig geblieben sind.“ Natürlich habe ihn das Beben verändert. Es mache einem klar, wie verletzlich und kostbar das Leben sei. „Materieller Besitz ist mir jetzt nicht mehr so wichtig. Die Dinge kommen und gehen.“

Nach einem Flat White, dem typisch neuseeländischen Kaffee, zeigt der Schriftsteller bei einem Spaziergang seinen Lieblingsort: das Arts Centre. Der neugotische Bau erinnert an die Anfänge der Stadt, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach englischem Vorbild erbaut wurde. Bis Ende der 70er Jahre befand sich an dieser Stelle die Universität, heute beherbergt das Arts Centre unter anderem das Court Theatre. „Hier habe ich als Student in einer Improvisationstruppe mitgespielt“, sagt Nixon. Er habe dabei viel über das richtige Timing gelernt, was ihm nun beim Schreiben helfe.

Heute steht vor dem Komplex ein Schutzzaun mit Warnschildern: „Fire“ steht darauf, andernorts heißt es „This building is dangerous and not safe to enter“, „Demolition in progress, no entry“. Es ist schwer, fast unmöglich, in der Innenstadt das Unglück zu vergessen. Das Arts Centre wird noch mindestens zehn Jahre geschlossen bleiben, so lange soll der Wiederaufbau dauern. „Ich gehe nur noch selten ins Zentrum, es ist einfach zu deprimierend“, gesteht Carl Nixon. „Dafür blüht das Leben in unseren Wohnvierteln auf.“

Die Gemeinschaft hält zusammen, das gilt auch für das Viertel Sydenham, wo sich bereits nach dem ersten großen Beben im September 2010 die Initiative „Gap Filler“ gründete, Lückenfüller, die auf Brachflächen Konzerte und Lesungen veranstaltet. „Wir wollen den Menschen Mut machen, ihnen eine Freude bereiten“, sagt Mitinitiatorin Coralie Winn. Anfangs arbeiteten sie und ihre Freunde ehrenamtlich, inzwischen wird das Projekt staatlich unterstützt. Die 31-jährige Kunst- und Theaterwissenschaftlerin Winn und ihre Freunde legten beispielsweise ein überdimensioniertes Schachbrett in der Nachbarschaft an, einen Minigolf-Platz und ein Gerät namens „Dance-O-Mat“. Wer zwei Dollar in die umgebaute Waschmaschine wirft und seinen MP3-Player einstöpselt, kann 30 Minuten lang einen großen Platz mit seiner Musik beschallen. Dass die meisten Aktionen im Freien stattfinden, hat auch damit zu tun, dass viele Bewohner nach dem Beben große Gebäude meiden. „Gap Filler“ ist ein offenes Projekt: „Jeder Bürger hat die Möglichkeit, sich bei uns zu beteiligen und seine Ideen einzubringen“, sagt Winn. Alle Aktionen sind zeitlich begrenzt, sie sollen keine Dauerlösung für die brachliegenden Orte sein.

Was langfristig aus Christchurch werden soll, hat die Regierung erst vor wenigen Wochen verkündet. Der Aufbauplan für das zentrale Geschäftsgebiet sieht neben mehr Grünflächen und Fahrradwegen auch ein großes Konferenzzentrum sowie ein überdachtes Sportstadium mit 35 000 Sitzplätzen vor. „Ich bin beeindruckt vom Umfang des Plans“, sagt Carl Nixon, der Schriftsteller. „Er gibt uns eine Vision, das ist wichtig. Jetzt müssen wir nur noch an der Finanzierung arbeiten.“ Insgesamt sind die Reaktionen auf den Plan positiv, auch wenn einige Bürger beklagen, dass doch zunächst einmal alle in der Stadt mit Wasserzugang und genügend sicherem Wohnraum versorgt werden müssen. Noch immer wissen viele Einwohner nicht, wie es für sie weitergeht, ihre Versicherungen zahlten bisher nicht. So ist es auch bei Nixons Mutter. Ein großer Riss geht durch das Haus der Witwe – bis heute haben die Behörden nicht entschieden, ob es repariert werden kann oder abgerissen werden muss. „Immerhin kann meine Mutter vorerst dort leben“, sagt Nixon. „Etliche Häuser sind komplett unbewohnbar.“

Auch das Küstenviertel New Brighton war von der Katastrophe betroffen. Nixons Familie hat hier früher oft Urlaub gemacht, so kam es dazu, dass die schmale Landzunge im Süden des Viertels einer der Schauplätze seines Romans „Rocking Horse Road“ wurde. Die titelgebende Schaukelpferd-Straße gibt es wirklich, sie heißt so, weil sie einst dem Auf und Ab der Dünen folgte, bevor sie geebnet wurde. Nixons Roman erzählt von einschneidenden Ereignissen, fiktiven und wahren: Ein Junge findet eine Mädchenleiche und macht sich auf die Suche nach dem Mörder; etwa zeitgleich kommt es 1981 zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der neuseeländischen Polizei und Demonstranten, die gegen Südafrikas Apartheid-Politik protestieren.

Als Nixon seinen Roman schrieb, war die Rocking Horse Road noch intakt. Heute gibt es für sie, ähnlich wie für die Protagonisten in seinem Buch, nur ein Davor und ein Danach. Beim großen Beben wurden 200 der insgesamt 400 Häuser zerstört und mussten abgerissen werden. Darauf verweist der Autor auch in einer Nachbemerkung zur deutschen Fassung des Romans. Sie endet mit den Maori-Worten „Kia Kaha, Christchurch!“ Sei stark, Christchurch.

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