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© ddp

Erdrutsch: Abgrund am See

Anderthalb Häuser und drei Menschen rutschen in die Tiefe – ein Unglück, das viele befürchtet hatten.

Als es Thomas Mittenzwei laut krachen hörte, vermutete er, dass die Jugendlichen auf dem nahen Sportplatz wieder feierten und Feuerwerkskörper abbrannten. „Das machen die fast jedes Wochenende“, sagt der 58-Jährige. Erst als ihn die Feuerwehr aus seinem Haus holte, wusste er, dass es keine Böller waren, die so viel Lärm gemacht hatten. Ungefähr 300 Meter Luftlinie von Mittenzweis Haus entfernt hatte ein Erdrutsch ein Zweifamilienhaus mit vermutlich vier Personen in den Concordia-See gestürzt. Ein weiteres zweistöckiges Gebäude wurde zur Hälfte weggerissen. Menschen kamen dort nicht zu Schaden.

Der Concordia-See bei Nachterstedt im östlichen Harzvorland bei Quedlinburg ist ein ehemaliger Tagebau. Durch die Flutung des Tagebaureviers im Salzlandkreis ist ein etwa 650 Hektar großer See entstanden, der „Concordia-See“, der größte künstliche See im Harzvorland. Der Höchstwasserstand soll 2018 bei etwa 103 Meter über Normalnull erreicht sein. Der Braunkohle-Abbau war 1991 eingestellt worden.

Was den Erdrutsch am frühen Samstagmorgen gegen fünf Uhr auslöste, ist noch völlig unklar. „Wir bewegen uns im Reich der Spekulationen“, sagt Sachsen-Anhalts Innenstaatssekretär Rüdiger Erben. Starker Regen in der Nacht werde als Grund für das verheerende Unglück ausgeschlossen. Polizei und Kreisverwaltung vermuteten einen Zusammenhang mit der früheren Braunkohleförderung.

Die Geschichte der Kohleförderung in Nachterstedt reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück, damals noch im Untertagebau. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts und mit der Entdeckung von großen Braunkohlevorkommen entstand der Tagebau. Ältere Nachterstedter vermuten, dass es bis heute Hohlräume aus der Zeit des Untertagebaus unter Teilen ihrer Stadt gibt.

Es ist nicht das erste Unglück dieser Art in Nachterstedt. Bereits 1956 war es zu einem großen Erdrutsch gekommen, der auch Gebäude mitgerissen hatte. Damals kam ein Mann ums Leben.

Bei dem Unglück am Samstagmorgen rutschte eine Fläche auf einer Länge von rund 350 Metern ab, auch eine Straße versank. Die Behörden sprechen von einer Milliarde Kubikmeter Erdreich. „Auf dem See ist es zu einem Mini-Tsunami gekommen“, erklärt Christian Sladek vom Wirtschaftsministerium Sachsen-Anhalt. Auf der gegenüberliegenden Ufer seien Boote mehrere Meter weit an Land gespült worden.

Weil weitere Erdrutsche zu befürchten sind, konnten bisher keine Rettungskräfte zu den Haustrümmern vordringen. Nicht einmal eine Hundestaffel sei am Unfallort einsetzbar, sagt Ulrich Gerstner, Landrat des Salzlandkreises. Rundflüge mit Hubschraubern und Aufnahmen einer Wärmebildkamera hätten keinen Aufschluss gegeben. Die Polizei sperrte den rund 350 Hektar großen Concordia-See für Sportboote und Schwimmer, dazu alle Wander- und Radwanderwege, die um den See führen.

Mehr als 60 Bewohner aus umliegenden Häusern wurden zum Teil vorübergehend in Notunterkünften untergebracht – unter ihnen auch Thomas Mittenzwei. Für ihn und andere Nachterstedter ist der Erdrutsch keine so große Überraschung. „Die haben in diesem Jahr erst bei uns in der Straße gebohrt und Hohlräume verfüllt“, erklärt Mittenzwei. Bis zu 80 Meter seien Mitarbeiter der Lausitzer-Mitteldeutsche-Bergbauverwaltung (LMBV) in die Tiefe gegangen. „Warum verfüllen die Hohlräume, wenn alles in Ordnung ist?“ fragt Mittenzwei. Er wohnt neben einem Kindergarten in der Haldenstraße, die etwa 300 Meter entfernt parallel zur Abbruchstelle verläuft.

Schon vor zwei Jahren sollte an der heutigen Abrutschstelle eine Steganlage errichtet werden. Nach Aussage von Thomas Mittenzwei seien die Arbeiten aber schnell eingestellt worden, als die LMBV-Mitarbeiter merkten, dass in die Böschung kein Halt zu bekommen sein würde. „Seitdem wurde dort kein Finger mehr gerührt“, erzählen andere Anwohner.

Für 39 Menschen wird es vorerst keine Rückkehr in ihre Häuser geben. Sie sind bei Verwandten, in leeren Wohnungen der örtlichen Wohnungsgesellschaft oder in Hotels untergebracht. Wie lange, kann auch Landrat Gerstner nicht sagen. „Wir gehen davon aus, dass es Monate dauern kann, bis wir Gewissheit haben.“

Hans-Herrmann Fraust steht am Nachmittag weinend in der Pressekonferenz. Der 62-Jährige ist seit fünf Uhr auf den Beinen, eine Hose der Feuerwehr über dem Schlafanzug. „Ich will doch nur das Nötigste aus meinem Haus holen.“ Das steht noch, aber unmittelbar neben der Abbruchstelle. Ob und wann er je wieder dort wohnen kann, konnte auch Landrat Gerstner ihm nicht sagen. „Es ist zu gefährlich, den Randbereich zu betreten.“ Die Stadt verteilt Gutscheine, damit die aus ihren Häusern Geholten sich mit dem Nötigsten versorgen können.

Derzeit werden noch vier Personen vermisst. Sie haben alle in dem völlig abgerutschten Haus gelebt. Ein 19-Jähriger war gegen fünf wach geworden, als es „im Haus zu knacken anfing“, so schildern es seine Freunde. Dann habe er noch versucht, seinen Vater zu wecken. Als ihm dies nicht gelungen sei, habe er fluchtartig das schwankende Haus verlassen. Er wird derzeit psychologisch betreut. Seine Mutter war zum Zeitpunkt des Unglücks zur Nachtschicht. Neben dem Vater werden ein zweiter Sohn der Familie und ein weiteres Ehepaar vermisst, das ebenfalls in dem Haus wohnte.

Die Region hatte mit dem Entstehen des Concordia-Sees auf den Tourismus gebaut. Die Tagebauregion erlebte nach der Einstellung der Förderung einen Aderlass; die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp 20 Prozent. In Sichtweite des Brockens sollten nun Urlauber und Tagesgäste ein Bad im See genießen oder sich auf einer Schiffstour erholen. Rund um den See entstanden Strände, Wassersportmöglichkeiten und Ferienhäuser. Am Samstag wurde auch ein großes Stück Hoffnung im See begraben. 

Mathias Kasuptke[Nachterstedt]

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