Panorama: Gekaufte Keuschheit
Ein ägyptisches Rechtsgutachten erlaubt Eheanwärterinnen die Rekonstruktion des Jungfernhäutchens
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Die jüngste Fatwa, ein religiöses Gutachten des ägyptischen Großmuftis Scheich Ali Gomaa, hat heftige Debatten ausgelöst. Der höchste Geistliche des Landes, der von der Regierung eingesetzt wird, bricht überraschend mit einem der größten Tabus in der arabisch-muslimischen Welt: Der Jungfräulichkeit von Frauen und Mädchen bis zur Heirat. So hatte Ali Gomaa in der beliebten Talkshow „Al Beit Beitak“ das Rechtsgutachten eines Kollegen abgesegnet, welches die Rekonstruktion des Jungfernhäutchens als religiös legitim erklärt. Dies gilt ausdrücklich für Frauen, die vor der Ehe Sex hatten und damit ihre Jungfräulichkeit für die Heirat wiederherstellen wollen. Sie seien „juristisch gesehen Jungfrauen“, heißt es. Und sie werden von dem Geistlichen ausdrücklich dazu angehalten, dem zukünftigen Ehemann ihre sexuellen Erfahrungen zu verschweigen. „Wenn Gott gewollt hätte, dass wir alles voneinander wissen, hätte er uns zu Hellsehern gemacht“, lautet die Argumentation des Geistlichen. Einzige Voraussetzung: Die Frauen und Mädchen sollen aufrichtig bereuen. Prostituierte oder Frauen, die mehrfach den Partner wechselten, sind ausgenommen.
Damit nimmt Gomaa indirekt den Kampf gegen ein Dogma auf, welches das Denken in der gesamten arabisch-islamischen Welt beherrscht: Die Jungfräulichkeit der Frauen gilt als Voraussetzung für die Ehe. An ihr wird auch die Ehre der gesamten Familie festgemacht. Das Bettlaken mit den Bluttropfen, welche die Frau in der Hochzeitsnacht verliert, wird bis heute als Trophäe vor Nachbarn und Familie herumgezeigt. Mädchen, die vorehelichen Sex hatten, werden noch immer bei sogenannten Ehrenmorden von ihren eigenen Brüdern oder Vätern getötet. Doch die Kluft zwischen religiösem Anspruch und Tradition und der gesellschaftlichen Wirklichkeit scheint immer größer zu werden.
Gleichzeitig ist die Fatwa ein Musterbeispiel dafür, welche Verrenkungen nötig sind, um diese Kluft zu überbrücken. Denn Gomaa hat nicht direkt das Prinzip der Jungfräulichkeit infrage gestellt. Er hat vielmehr einen Weg gewiesen, wie dieser Schein aufrechterhalten werden kann – auch wenn die Realität teilweise längst anders aussieht. Was die einen als Gipfel der Scheinheiligkeit kritisieren, erscheint anderen pragmatisch.
So unterstützt Scheich Khaled al Gindy, selbst Al-Azhar-Gelehrter, die Fatwa des Großmuftis im Namen der Gleichberechtigung. „Der Islam unterscheidet nicht zwischen Männern und Frauen. Daher ist es nicht rational zu glauben, dass Gott die Frauen mit einem Merkmal ausgestattet hat, an dem ihre Jungfräulichkeit abzulesen ist, während die Männer kein ähnliches Merkmal haben.“ Warum dann aber nicht sofort das Prinzip der Jungfräulichkeit über Bord werfen? Dafür sei die Gesellschaft nicht reif, so die Antwort des liberalen Gelehrten.
Insgesamt überwiegt jedoch die Kritik an der neuen Fatwa. Der Begründer einer islamischen Telefonseelsorge, Abdel Megid Scherif, zeigt sich entsetzt. „Wenn dies wirklich für alle Frauen gedacht ist, die vor der Ehe sexuelle Beziehungen hatten, dann ist sie unverständlich.“ Denn aus dem Koran gehe eindeutig hervor, dass Männer und Frauen keine Sexualbeziehungen vor der Ehe haben dürften und es dafür kein Pardon gebe. Daher glaubt Scherif, dass diese Fatwa „keinen Einfluss auf die Gesellschaft“ haben wird, die ihre „soliden Prinzipien“ habe. Alle Religionen, nicht nur der Islam, würden Sex außerhalb der Ehe verbieten. Andere Kritiker stoßen sich an der Idee, dass die Fatwa die Heuchelei religiös absegnet. Denn Gomaa hat nicht nur Bräute angehalten, über ihr Sexualleben zu schweigen. Er hat auch Ehefrauen gestattet, einen Seitensprung geheim zu halten, „wenn sie bereuen und Gott um Vergebung bitten“. Die „praktischste Lösung ist die Scheinheiligkeit“, mokiert sich die Wochenzeitung „Hebdo Al Ahram“. DoViele Männer befürchteten angesichts des neuen religiösen Gutachtens, bei der Heirat „übers Ohr gehauen zu werden“ und falsche Jungfrauen zu heiraten.
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