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Der ausgebrannte Superjet wird mit einem Kran vom Flughafen entfernt.

© Sergei Fadeichev/ ITAR-TASS/imago

Flugzeugunglück in Moskau: „Handgepäck ist nicht wichtiger als das eigene Leben“

Nach dem Flugzeugbrand in Moskau wird diskutiert: Wie kann verhindert werden, dass Menschen ihr Handgepäck retten und die Evakuierung erschweren?

Von Oliver Bilger

Bei der dramatischen Bruchlandung am Moskauer Flughafen Scheremetjewo zählte jede Sekunde, um zu überleben. Als die Maschine bei der Notlandung mehrfach aufsetzte und das Heck Feuer fing, drängten die Passagiere in der Kabine nach vorne Richtung Ausgang. Einige Insassen, das belegen Videoaufnahmen und Zeugenaussagen, machten sich jedoch noch die Mühe, ihr Handgepäck aus den Gepäckfächern zu retten. In sozialen Medien häuften sich nach dem Unglück Berichte, wonach Fluggäste anderen den Weg zu den Notausgängen versperrten. Sie sollen sich lieber um ihre Rucksäcke, Handtaschen und Köfferchen in den Ablagen gekümmert haben.

Zwar dauerte die Evakuierung der Maschine nach Angaben der Fluggesellschaft Aeroflot nur 55 Sekunden. Allerdings könnte die Mitnahme von Taschen und Jacken entscheidende Sekunden gekostet haben. 41 der insgesamt 78 Insassen überlebten das Unglück nicht. Die meisten Toten saßen auf hinteren Plätzen in der Maschine vom Typ Superjet-100, wo das Feuer ausbrach. Offizielle Angaben zu möglichen Verzögerungen aufgrund der Gepäckmitnahme gibt es allerdings nicht.

Untersuchungen am Unfallort sind abgeschlossen

Die russische Tageszeitung „Kommersant“ hatte unter Berufung auf Ermittlerkreise berichtet, die Passagiere im hinteren Teil der Maschine seien bei dem Aufprall verletzt worden und hätten sich nicht allein aus dem brennenden Flugzeug retten können.

Ermittler schlossen zwei Tage nach dem Brand am Dienstag zunächst ihre Untersuchungen am Unfallort ab.

Ilja Sotow, Chef des russischen Passagierverbands, empfahl nach dem Unglück, künftig die Gepäckfächer über den Sitzreihen bei Starts und Landungen zu automatisch zu verschließen. In einem Notfall blieben die Gepäckablagen dann blockiert, nur das Bordpersonal könne sie öffnen, sagte er der Nachrichtenagentur Regnum. Eine solche automatische Verriegelung sei ohne großen finanziellen Aufwand zu installieren.

Notfallsituationen führen zu Fluchtreflex

Der Verband bat das russische Verkehrsministerium außerdem, künftig Flugbegleiter zu verpflichten, Passagiere darauf hinzuweisen, dass sie bei einer Evakuierung kein Gepäck mitnehmen dürfen.

Deutsche Experten, wie Lars Corsten, Vorsitzender der Vereinigung Passagier, fürchten, dass es in einer solchen Extremsituation nicht zu verhindern sei, dass Menschen zu ihrem Handgepäck griffen. Es handele sich in einer solchen Ausnahmesituation um einen Fluchtreflex. „Aus psychologischer Sicht ist es normal, dass die Passagiere das Flugzeug so verlassen wollen wie sie hineingekommen waren.“

Um dramatische Szenen zu vermeiden, seien nach Corstens Worten die Fluggesellschaften in der Pflicht. Er fordert: Die Sitzabstände zwischen den Reihen müssten vergrößert und ein gewisser Mindestabstand garantiert werden. Andernfalls komme man kaum an die Rettungswesten heran und es gebe im Fall einer Evakuierung zu wenig Platz für die vielen Menschen an Bord.

 „Nicht hundert Prozent zurechnungsfähig“

Janis Schmitt, Pressesprecher der Vereinigung Cockpit, kritisiert Passagiere, die Anweisungen des Personals nicht Folge leisten. Paniksituationen seien in Notfällen jedoch nicht zu vermeiden. Rechtliche Konsequenzen für jene, die ihr Gepäck mitnehmen seien jedoch fraglich: „In der akuten Notfallsituation ist man sicherlich nicht zu hundert Prozent zurechnungsfähig.“ Inwieweit ein Richter dann Strafen aussprechen würde und ob das ein Umdenken bei den Passagieren auslösen würde, ließe sich nicht abschätzen.

Welche Lösungsvorschläge gibt es? Die Forderung nach verschließbaren Gepäckfächern hält Corsten hingegen für wenig sinnvoll. Denn in den Ablagen befinden sich Sauerstoffmasken, Äxte und Feuerlöscher. Er fordert stattdessen: Fluggesellschaften sollten sogenannte Evakuierungstests mit „ahnungslosen Leuten“ simulieren, bei denen bewusst mit einkalkuliert würde, dass sie bei der Evakuierung nach ihrem Handgepäck griffen. Bisher würden solche Tests mit „flugaffinen Menschen“ absolviert.

Schmitt rät zu einer noch besseren Aufklärung der Passagiere, die man expliziter vor den Gefahren warnen müsse: „Es gibt nichts im Handgepäck, das wichtiger ist als das eigene Leben und das der Mitreisenden“.

Ermittler werten Flugschreiber aus

Eine Regierungskommission müsse die technischen Aspekte der Tragödie untersuchen und Konsequenzen ziehen, sagte Ministerpräsident Dmitri Medwedew am Dienstag in Moskau. Experten werten nun die Daten der Flugschreiber aus, die bei dem Unglück stark beschädigt worden seien, teilte das russische Zwischenstaatliche Luftverkehrskomitee mit. Die Flugschreiber sollen stark beschädigt worden sein. Sie seien bei dem Brand hohen Temperaturen ausgesetzt gewesen, berichtete die Agentur Interfax. Das Gerät, das die Kommunikation an Bord aufzeichnet, sei in einem „zufriedenstellenden Zustand“. „Alle Fluginformationen wurden kopiert.“ Die Auswertung könne jedoch mehrere Tage dauern. 

Experten spekulieren über die Gründe für die Katastrophe. Die Ermittler gehen bei der Suche nach Unglücksursache verschiedenen Möglichkeiten nach. Untersucht werde, ob die Piloten und das technische Personal ausreichend qualifiziert gewesen seien, hieß es beim staatlichen Ermittlungskomitee zuvor. Geprüft würden auch mögliche technische Ursachen an der Maschine sowie Wettereinflüsse. Die Rede war von einem Blitzeinschlag. Über Teile der russischen Hauptstadt war zum Unglückszeitpunkt ein kurzes Unwetter gezogen.

Zur Klärung der Ursache wollen die Ermittler nun Überwachungskameras und mit Handys gedrehte Videos von Augenzeugen und Passagieren auswerten. Nach dem Unglück waren viele Videos von der brennenden Maschine im Internet zu sehen gewesen. (mit dpa)

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