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 Einwohner der Kleinstadt Brokstedt haben Blumen und Kerzen am Tatort der Messerattacke auf dem Bahnsteig im Bahnhof von Brokstedt abgelegt.

© dpa / Marcus Brandt

Update

Messerattacke im Regionalzug: Haftbefehl für Tatverdächtigen kurz vor dem Angriff aufgehoben

Der Verdächtige beging zuvor zahlreiche Straftaten. Die Gefahr für eine erneute Gewalttat schätzte das Gericht auf 50 Prozent. Innenministerin Faeser sieht Handlungsbedarf.

| Update:

Wenige Tage vor der tödlichen Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg ist der mutmaßliche Täter psychiatrisch beurteilt worden - ohne dass dabei besondere Auffälligkeiten festgestellt wurden.

Schon im Rahmen seiner knapp einjährigen Untersuchungshaft wegen eines Gewaltdelikts sei er in der Hamburger Justizvollzugsanstalt Billwerder psychiatrisch betreut worden, teilte die Hamburger Justizbehörde am Donnerstag mit. Grund für die Betreuung seien Tätlichkeiten gewesen, in die er zwei Mal während der Haft verwickelt gewesen sei.

„Ein Psychiater hat kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt“, sagte eine Behördensprecherin. Deshalb habe es auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten. „Anders als bei der Außervollzugsetzung eines Haftbefehls bestehen bei der Aufhebung eines solchen keine Möglichkeiten, Auflagen oder Weisungen zu erteilen.“

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Tatverdächtiger in Untersuchungshaft

Nach dem tödlichen Messerangriff in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein ist der 33-jährige mutmaßliche Täter am Donnerstag in Untersuchungshaft genommen worden. Dem staatenlosen Palästinenser würden zweifacher heimtückischer Mord und vierfacher versuchter Totschlag zur Last gelegt, teilte ein Sprecher der für die Ermittlungen zuständigen Staatsanwaltschaft in Itzehoe mit. Der Mann macht von seinem Schweigerecht Gebrauch.

Beim Haftrichter-Termin hat der mutmaßliche Täter keine Aussagen zur Sache gemacht. Nach Vorliegen von Ermittlungsergebnissen werde er mit seinem Mandanten sprechen, sagte Anwalt Björn Seelbach am Samstag auf Anfrage.

Ermittler am Bahnhof von Brokstedt.
Ermittler am Bahnhof von Brokstedt.

© Reuters/Fabian Bimmer

Der mutmaßliche Angreifer saß vor der Tat wegen einer anderen Messertat in Hamburg bereits ein Jahr in Untersuchungshaft. Er sei am 18. August 2022 vom Amtsgericht Hamburg-St. Georg zu einem Jahr und einer Woche wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls verurteilt worden, teilte Gerichtssprecher Kai Wantzen am Donnerstag mit.

Dem nicht rechtskräftigen Urteil zufolge hatte der heute 33-Jährige am 18. Januar 2022 einen Mann vor einer Hamburger Obdachlosenunterkunft mit einem Messer angegriffen und verletzt. Beide hätten in einer Schlange zur Essensausgabe gestanden und seien in Streit geraten. A. gab damals an, er habe vor der Tat in großen Mengen Kokain, Heroin und Alkohol konsumiert.

Gegen das Urteil legte der 33-Jährige Berufung ein. Das Landgericht habe zunächst Nachermittlungen veranlasst, außerdem habe es terminliche Schwierigkeiten mit einem Sachverständigen gegeben. Deswegen habe ein Termin für einen neuen Prozess nicht angesetzt werden können.

Einsatzkräfte der Polizei und Rettungsdienste sind an einem Bahnübergang in der Nähe von Bahnhof Brokstedt im Einsatz.
Einsatzkräfte der Polizei und Rettungsdienste sind an einem Bahnübergang in der Nähe von Bahnhof Brokstedt im Einsatz.

© dpa/Jonas Walzberg

Weil die Dauer der Untersuchungshaft die Strafe des Amtsgerichts zu überschreiten drohte, habe das Landgericht den Haftbefehl am 19. Januar aufgehoben. Da nur der Verurteilte Berufung gegen das Urteil eingelegt hatte, hätte das Landgericht keine längere Haftstrafe aussprechen dürfen, erklärte Wantzen.

Die Entscheidung sei überraschen gewesen, sagte Bonner Rechtsanwalt Björn Seelbach, der A. nach eigener Auskunft vertritt, gegenüber dem SPIEGEL. Es wäre „besser gewesen, man hätte ihn auf die Entlassung vorbereiten können.“

Täter ist nach Aussage seines Anwalts von der Terrororganisation Hamas drangsaliert worden

Da Ibrahim A. vor der Inhaftierung in Hamburg obdachlos gewesen sei, „stand er jetzt auf der Straße“. Sein Mandant habe keine Familienangehörigen in Deutschland, betonte Seelbach. Die Familie A. habe im Gazastreifen gelebt und sei von der Terrororganisation Hamas drangsaliert worden. „Das war der Grund für seine Flucht.“ 

Im Urteil des Amtsgerichts Hamburg-St. Georg heißt es: Ibrahim A. und mehrere Angehörige hätten im Gazastreifen „schwerste Misshandlung durch die Hamas“ erlebt. Ibrahim A. seien „Verbrennungen und Schnittverletzungen zugefügt“ worden. Einen Onkel habe die Hamas getötet. Seine Mutter verstarb demnach 2010, sein Vater 2012. Er habe noch sechs Geschwister, die zumindest im August 2022 alle noch im Gazastreifen lebten.

Das Amtsgericht St. Georg bemängelte in seinem Urteil vom 18. August 2022, Ibrahim A. habe in Deutschland „kein tragfähiges soziales Netz“. Das Gericht schätzte das Risiko, dass Ibrahim A. wieder Straftaten begehen könnte, auf 50 Prozent. Es fehle an einer günstigen Sozialprognose.

Die beiden jungen Todesopfer kannten sich

Nach dem Messerangriff am Mittwoch sind ebenfalls weitere Erkenntnisse zu den Opfern bekannt geworden. Zu Tode kamen eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger aus der Region, wie Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) am Donnerstag in einer Sondersitzung des Landtags sagte. „Sie kannten sich.“

Einsatzkräfte vom Rettungsdienst sind am Bahnhof Brokstedt im Einsatz.
Einsatzkräfte vom Rettungsdienst sind am Bahnhof Brokstedt im Einsatz.

© dpa/Jonas Walzberg

Zuvor hatte die Ministerin das Alter des Mädchens noch mit 16 Jahren angegeben. Die Zahl der Verletzten hat Sütterlin-Waack ebenfalls aktualisiert. Demnach wurden dabei fünf Menschen und der Täter selbst verletzt. Zunächst war von sieben Verletzten die Rede gewesen.

Kräfte der Polizei und Spurensicherung an einem Bahnübergang am Bahnhof Brokstedt.
Kräfte der Polizei und Spurensicherung an einem Bahnübergang am Bahnhof Brokstedt.

© dpa/Jonas Walzberg

Zwei Menschen haben lebensgefährliche Verletzungen erlitten. Sie befänden sich ebenso wie ein drittes Opfer weiter im Krankenhaus, sagte Sütterlin-Waack am Donnerstag in Kiel. Drei Menschen seien noch im Krankenhaus, zwei davon wurden operiert, sagte Sütterlin-Waack. Zwei weitere Reisende seien bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. 

Der Täter selbst wurde leicht verletzt. Er sei noch kurz vor der Tat am Mittwoch in der Kieler Ausländerbehörde gewesen und habe eine Aufenthaltskarte beantragt, sagte Sütterlin-Waack. Von dort sei er zum Einwohnermeldeamt geschickt worden. 

Sabine Sütterlin-Waack (CDU), Innenministerin von Schleswig-Holstein, spricht am Tatort zu den Medien nach der Messerattacke.
Sabine Sütterlin-Waack (CDU), Innenministerin von Schleswig-Holstein, spricht am Tatort zu den Medien nach der Messerattacke.

© dpa/Jonas Walzberg

A. kam wohl am Heiligabend 2014 nach Deutschland und war laut dem Düsseldorfer Flüchtlingsministerium von Januar 2015 bis Ende 2020 in NRW gemeldet. Nach dpa-Informationen wurde er in dieser Zeit mehrfach wegen verschiedener Straftaten auffällig.

Laut Sicherheitskreisen ging es unter anderem um Verfahren wegen Bedrohung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Ladendiebstahls und sexueller Belästigung. Mehrere Medien hatten zuvor berichtet. Laut „Bild“ spielten sich die Taten zwischen 2015 und 2020 in Euskirchen, Bonn, Bad Münstereifel und Köln ab.

Zeugen hielten den Angreifer fest - Kubicki fordert „Breitseite des Rechtsstaates

2016 soll der mutmaßliche Täter subsidiären Schutz erhalten haben. Laut „Spiegel“ wurde aber ein Rücknahmeverfahren für den Schutztitel eingeleitet. Ein subsidiärer Schutzstatus verhinderte seine Abschiebung. 

Am Mittwochnachmittag hatte die Polizei mehrere Notrufe von Fahrgästen erhalten. Auf Benachrichtigung wurde der Zug gestoppt, worauf sich das Geschehen auf den Bahnsteig verlagert habe, erklärte eine Sprecherin der Polizei. Nach Angaben der Polizei hielten Zeugen den Angreifer fest. Demnach sei es diesen unmittelbar nach der Tat gelungen, den Verdächtigen zu stoppen, bis die Einsatzkräfte eintrafen. Etwa 120 Fahrgäste seien in dem Zug gewesen. 

„Wie konnte das passieren, dass er trotz so vieler Vorstrafen nicht länger in einer Justizvollzugsanstalt war?“, fragte Faeser, die mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) nach Brokstedt gekommen war. Nun müsse geklärt werden, wie es passieren konnte, „dass er so früh aus der Untersuchungshaft wieder entlassen wurde“, sagte Faeser, und „warum Menschen, die so gewalttätig sind, noch hier in Deutschland sind“. 

Auf einen terroristischen Hintergrund der Tat gibt es laut Staatsanwaltschaft Itzehoe keine Hinweise. Nach Angaben von Sütterlin-Waack erbrachte die Vernehmung des Mannes bisher auch noch keine Ergebnisse, so dass über dessen Motive nichts gesagt werden könne. Sie warnte deshalb vor zu schnellen politischen Forderungen als Reaktion auf das schreckliche Geschehen. 

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki sagte „Bild“, es brauche die „volle Breitseite des Rechtsstaates“. „Diese Taten müssen uns schon zu der Frage führen: Was ist zwischen 2014 und 2016 falsch gelaufen?“ Kubicki mahnte, die „Integrationsfähigkeit unseres Landes im Auge“ zu behalten. Deutschland könne nicht „unendlich viele Menschen aufnehmen, die wir dann auch nicht mehr betreuen und integrieren könnten“. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte als Konsequenz aus der Tat mehr Polizisten und Sicherheitspersonal etwa an Bahnhöfen. 

Der Fahrgastverband Pro Bahn und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer GDL sprachen sich für mehr Sicherheitsmaßnahmen in Zügen aus. „Wir fordern einen flächendeckenden Ausbau der Videoüberwachung in allen Waggons“, zitieren die „Lübecker Nachrichten“ (LN, Sonntag/Montag) Karl-Peter Naumann von Pro Bahn. Das könne Kriminalität in den Zügen womöglich nicht immer verhindern. „Es hilft aber in jedem Fall, die Täter zu fassen. Und das ist insbesondere für die Opfer von hoher Bedeutung.“ (dpa, AFP, Tsp)

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Polizei habe die Information über das Alter der Opfer veröffentlicht. Dies war nicht korrekt und wurde korrigiert. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen. 

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