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Panorama: Mütter – schuldlos im Gefängnis?

In England werden 258 Fälle neu verhandelt, weil angebliche Tötung plötzlicher Kindstod gewesen sein kann

Für Fälle des „plötzlichen Kindstods" hatte Professor Sir Roy Meadow eine klare Regel. „Ein Todesfall ist eine Tragödie. Ein zweiter ist verdächtig. Ein dritter in der gleichen Familie ist Mord." Für Gebühren von bis 1000 Pfund pro Gerichtstermin war der Kinderarzt jahrelang der führende Experte der englischen Justiz, wenn es um das „Sudden Infant Death Syndrom" (SIDS) ging. Auch in Deutschland sterben pro Jahr mehr als 400 Kinder unerklärlich in ihrer Wiege. In England galt „Meadows Gesetz". Eltern mit mehrfachen SIDS-Fällen kamen auf die Anklagebank – und mussten ihre Unschuld beweisen.

Bis vergangenen Mai. Als in Reading die Apothekerin Trupti Patel angeklagt war, drei ihrer Kinder in der Wiege ermordet zu haben, reiste die Großmutter Surajenben Patel aus Indien an. Mit Hilfe eines Dolmetschers beschrieb die 80-Jährige, wie sie selbst fünf ihrer zwölf Kinder unerklärlich verlor und solche unerklärten Todesfälle auch in der Verwandtschaft vorgekommen waren. Ein Genetiker wurde zitiert und räumte ein, dass genetische Ursachen im Spiel sein könnten. Auch bei mehrfachem Säuglingstod, so Prof. Michael Patton, dürften Mütter nicht automatisch in Verdacht geraten.

Patels Freispruch trat eine Lawine los. Diese Woche bestätigte ein Grundsatzurteil, dass möglicherweise in Hunderten vergleichbarer Fälle Justizirrtümer vorliegen und Dutzende von Müttern schuldlos im Gefängnis sitzen – „Mütter, bei denen der Tod ihrer Kinder schwere Wunden hinterlassen hat", sagte der Berufungsrichter Judge.

Der Richter hatte in einem der ersten Berufungsverfahren Angela Canning auf freien Fuß gesetzt. Die 40-Jährige sass im Gefängnis, weil sie zwei ihrer Kinder „erstickt" haben soll. Sohn Jason war 1991 gestorben. Als 1999 mit 18 Wochen auch Matthew starb, holte das Jugendamt die Polizei. Diese rief die Staatsanwaltschaft, diese den Richter und das Gericht Sir Roy Meadow.

Lord Goldsmith, Großbritanniens oberster Kronanwalt, ordnete nun die Wiederaufnahme von 258 Fällen an. Besonders dringlich sind die Fälle von 54 Personen, die wegen Säuglingstötung im Gefängniss sitzen. Maxine Robinson zum Beispiel – seit 9 Jahren. Zwei ihrer Kinder – 18 und 5 Monate alt – waren am 29. Juni 1993, dem heißesten Tag des Jahres, gestorben. Eine Tochter war bereits 1989 tot in der Wiege gefunden worden.

Wissenschaft und Justiz, so Richter Judge, tappten im Falle des „plötzlichen Kindstods" im Dunklen. „Was heute noch unerklärlich ist, wird uns vielleicht morgen völlig verständlich sein". Verurteilungen dürften nicht allein auf Grundlage „dogmatischer Expertenmeinungen" erfolgen. Kollegen priesen das Urteil als „juristische Tour de Force". Gestern befasste sich sogar das Parlament mit dem Skandal. Die Ärztekammer wird sich die Arbeit des Gutachters Sir Roy vornehmen.

Aber es geht nicht nur um schuldlose Mütter. In schätzungsweise 5000 Fällen nahmen in den letzten 15 Jahren Jugendämter Eltern mit SIDS-Fällen die Kinder weg. Diese Fälle, erklärte bereits Jugendministerin Margaret Hodge, könnten unmöglich wieder aufgerollt werden. Eine der Betroffenen erzählte gestern anonym in der BBC ihre Geschichte. Angeklagt wurde sie nie – aber das Sozialamt gab ihre neugeborene Tochter in Pflege. Heute ist das Mädchen vier Jahre alt und steht zur Adoption an. „Ich weiß, dass es traumatisch für mein Kind wäre, nun plötzlich zu mir Fremdem zurückzukommen. Aber was sagt man ihr, wenn sie 12 oder 13 ist und fragt, warum sie ihren natürlichen Eltern weggenommen wurde?"

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