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Fall Lea-Sophie: Nur weil sie ihre Eltern ärgerte

Vater und Mutter der verhungerten Lea-Sophie sind zu elf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden. Der Staatsanwalt durfte bei der Urteilsverkündung nicht dabei sein - wegen seiner Kritik an der Politik.

Die Eltern der in Schwerin verhungerten Lea-Sophie haben ein „moralisches Grundgesetz gebrochen“, weil sie das eigene Kind „verantwortungslos dem Hungertod überließen“. Der ruhig vorgetragene Satz des Vorsitzenden Richters Robert Piepel klang gestern am Landgericht Schwerin wie der Schlüssel zu dem harten Urteil für Nicole G. (24) und Stefan T. (26). Sie müssen für elf Jahre und neun Monate ins Gefängnis, weil sie ihre Tochter im November 2007 verwahrlosen und verhungern ließen. Die Verteidiger hatten auf eine Strafe wegen Totschlags gehofft. Piepel aber stellte klar, dass Scham und Angst „niedere Beweggründe“ sind. Deshalb wurden Lea-Sophies Eltern wegen Mordes durch Unterlassen und Misshandlung ihrer Tochter verurteilt. Nicole G. weinte, als sie in Handschellen abgeführt wurde, Stefan T. schien wie betäubt.

Nach Ansicht des Gerichts verschwinden zwei persönlichkeitsgestörte, aber voll schuldfähige Menschen hinter Gittern, denen es an Selbstvertrauen mangelte, die Konflikten auswichen und die seit langem nichts mehr zusammenhielt außer ihrer gemeinsamen Tochter. Streit und Eifersucht hatte die beiden Einzelgänger schon lange entzweit. Lea-Sophie wurde lange Zeit vor allem von Nicole G. behütet, umsorgt und verwöhnt. Als der Bruder Justin zur Welt kam, „bockte“ Lea-Sophie. Sie zerstörte Spielzeug, räumte Schränke aus – und weigerte sich zu essen. Statt Hilfe zu holen, sah sich Nicole G. von ihrer kleinen Tochter in ihrer Mutterrolle kritisiert und lieferte sich mit Lea-Sophie einen „Machtkampf“, den die Kleine nicht gewinnen konnte.

Dabei habe sie vor allem eine gute Mutter sein wollen, beteuerte Nicole G. Auch Vater Stefan T. fühlte sich von seiner Tochter „geärgert“ und zog sich zurück. Längere Zeit hofften die Eltern, dass Lea-Sophie irgendwann wieder essen würde. Aber selbst, als sie wahrscheinlich zwei Wochen vor dem Tod erkannten, dass Lea-Sophie sterben könnte, verharrten die Eltern in kaum erklärbarer Starre. Sie schämten sich, weil sie als Eltern versagt hatten. Sie hatten Angst, dass dies bekannt würde. Und sie hatten Angst, dass ihnen beide Kinder weggenommen würden. Das Gericht wies darauf hin, dass die Angst von Nicole G. und Stefan T., die Kinder zu verlieren, nicht von ungefähr kam. Seit der Geburt von Lea-Sophie bedachten Nicole G.s Adoptiveltern das junge Paar mit einer fürsorglichen Belagerung, weil sie sie offenbar für unfähig hielten, die Kleine zu erziehen. Anfangs wuchs Lea-Sophie bei den Großeltern auf. Diese rückten sie nur ungern heraus, als Nicole G. und Stefan T. in eine eigene Wohnung zogen.

Bei Stefan T. erhärtete sich der Verdacht, seine „Schwiegereltern“ wollten die Enkelin für sich. „Der jungen Familie blieb wenig Luft zum eigenen Atmen“, sagte Richter Piepel. Sie fühlte sich kontrolliert und igelte sich ein. Als der Großvater zum Jugendamt ging, fühlten sich Nicole G. und Stefan T. angeschwärzt und zogen sich noch weiter zurück.

Das Jugendamt verschonte Richter Piepel mit Kritik. Als der Großvater Hilfe suchte, weil ihm Lea-Sophie angeblich zu mager und sprachlich zurückgeblieben erschien, ging es dem Kind nach Erkenntnissen des Gerichts durchaus gut. Es gab keinen Grund für die Sozialarbeiter, einzuschreiten. Nach der Geburt von Brüderchen Justin allerdings wurde das Jugendamt erst im November von Nachbarn anonym benachrichtigt. Zum Besuch beim Jugendamt aufgefordert, brachten Nicole G. und Stefan T. einen properen Säugling vorbei, den Bruder. Über Lea-Sophies Zustand logen sie.

Die Schweriner Stadtvertretung hatte allerdings im März festgestellt, Lea-Sophie könnte noch leben, wenn das Jugendamt rechtzeitig eingeschritten wäre. Dies war im April Anlass für ein Bürgerbegehren, bei dem der Schweriner Oberbürgermeister Norbert Claussen (CDU) abgewählt wurde. Großvater Norbert G. bleibt vom aus seiner Sicht tödlichen Versagen der Sozialarbeiter überzeugt. „Wenn die was gemacht hätten, würde Lea noch leben. So einfach ist das.“

Staatsanwalt Wulf Kollorz hatte in seiner Erwiderung auf die Plädoyers der Verteidigung die Dinge dagegen anders dargestellt. Von „zweifelhaften politischen Charakteren“ sprach er, „die sich nicht zu schade waren, mit einer Kinderleiche Kommunalpolitik zu machen“. Der Großvater habe die Eltern beim Jugendamt angeschwärzt, als es Lea-Sophie noch gut ging. Daraufhin zogen sie sich erst vollkommen zurück, und das Kind verwahrloste. Dem Großvater gelang es dann, eine politische Dynamik in Gang zu setzen, in deren Verlauf der Bürgermeister unter Verweis auf angebliches Fehlverhalten des Jugendamtes abgewählt wurde. Staatsanwalt Kollorz, der das kritisiert hatte, durfte deshalb bei der Urteilsverkündung nicht anwesend sein.

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